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Alter Zigeuner

Heute leben in der Bundesrepublik nach verschiedenen Schätzungen etwa 80 – 120.000 Sinti und Roma, die landläufig und in der Regel diskriminierend als "Zigeuner" und von den Behörden vorurteilsvoll mit dem alten Nazibegriff als "Landfahrer" bezeichnet werden. Sinti wanderten erstmals im 15.Jahrhundert nach Deutschland ein; außerhalb des deutschsprachigen Raumes ist der Sammelbegriff Roma. Im deutschen Sprachraum wird der Begriff Roma für alle verwendet, die in der zweiten Hälfte des 19. und 20. Jahrhunderts aus Südost- nach Mitteleuropa kamen. Die Sinti und Roma lehnen die pejorativ verwendete Fremdbezeichnung "Zigeuner" größtenteils ab, weil sie alle Stereotype und Klischees in sich birgt und transportiert, mit denen die jahrhundertelange Verfolgung bis hin zum Völkermord gerechtfertigt wurde.

Der Begriff Antiziganismus ist ein Neologismus, der die Feindschaft gegenüber Roma und Sinti auf einen Begriff bringt. Er wurde erst in den letzten 25 Jahren entwickelt und existiert sowohl im Englischen (Antigypsism), Französischen (l`Antitsiganisme) und Deutschen. Obwohl mittlerweile auch Roma und Sinti diesen Begriff benutzen, handelt es sich um einen Neologismus, der von Angehörigen der Mehrheitsgesellschaft geprägt wurde – und nicht von den Roma und Sinti selbst. Antiziganismus wurde im Gegensatz zum Antisemitismus niemals in Frage gestellt, er gehört immer zum kulturellen Code der Mehrheitsgesellschaft. Deshalb ist er im heutigen Deutschland dreimal so weit verbreitet wie der Antisemitismus.

Im Gegensatz zum Antisemitismus steht die Erforschung der Entstehung und Entwicklung des Antiziganismus noch in den Anfängen. Im Unterschied zur "Tsiganologie" oder "Zigeunerforschung", die die Roma und Sinti zum Sozialobjekt der Forschungen macht und an rassistische Forschungen aus dem 20. Jahrhundert anknüpft, befasst sich die Antiziganismusforschung mit den Vorurteilen der Mehrheit über die von ihr so genannten "Zigeuner".

Eine Auseinandersetzung mit dieser Variante des Rassismus ist wichtiger denn je. Nach Umfragen Ende der 90er Jahre haben zwei Drittel aller Deutschen starke Vorbehalte gegenüber Roma und Sinti. In den Medien und im Alltagsbewusstsein werden Stereotypen über "Zigeuner“ immer neu reproduziert. Die Umstände ihres Lebens werden einerseits romantisiert, sie erscheinen sagenhaft – Lagerfeuer, Musik, tanzende Frauen, Wahrsagerinnen. Auf der anderen Seite gibt es das Bild des durchtriebenen, mit schier unbegrenzter krimineller Energie versehenen Zigeuners. Die Wahrnehmung von Roma und Sinti, die in diesem Zigeunerbild konstruiert werden, wurde schon seit der Entstehung des Antiziganismus im 15.Jahrhundert von diesen beiden Stereotypen bestimmt. Über kein anderes Volk wissen die Deutschen so wenig und doch soviel Negatives wie über die Roma und Sinti, die seit 600 Jahren hier leben. Wie kommt es, dass Antiziganismus so ungebrochen tradiert wird?

Antworten darauf liefert sowohl Wolfgang Wippermann, der im Interview Antiziganismus als Problem der Mehrheitsgesellschaft analysiert, sowie Christina Kalkuhl, die sich in ihren Beiträgen über antiziganistische Bilder in Lied, Film und Kultur auseinandersetzt. Denn unsere "Zigeuner" zeigen bei genauerer Betrachtung viel von den Wünschen und Ängsten der Mehrheit und gar nichts vom Leben der Sinti und Roma. Wilhelm Solms beschäftigt sich in seinem Beitrag mit dem Nutzen einer vergleichenden Antisemitismus- / Antiziganismusforschung.

Einen kurzen Abriss der Verfolgungsgeschichte der Roma und Sinti in Deutschland liefert uns Jana Seppelt; Richard Wagner skizziert die Situation der Roma im Rumänien Ceaucescus bis heute. Zur aktuellen Situation der Roma und Sinti, die als Flüchtlinge aus Ex-Jugoslawien lange hier lebten und im Dezember einen Abschiebestopp erwirkten, schreibt Andreas Nowak. Zur Abschiebung der Roma und Sinti aus Großbritannien in sogenannte "Weiße-Liste-Länder" steuerte Saleh Mamon einen Überblick über die Bedingungen in den Herkunftsländern bei. Christina Kalkuhl von der Gesellschaft für Antiziganismusforschung versorgte uns mit Kontakten, Informationen und Bildmaterial.

Abschließend nur eins - wir sind keine "Tsiganologen" und haben auch keine Tendenzen zu dieser, für die Tradierung von Stereotypen anfällige Forschungsrichtung der Ethnologie. Die Auswahl der Schwerpunktartikel verdeutlicht das hoffentlich.

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