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Antiziganismus, ein Problem der Mehrheitsgesellschaft!
Ein Interview mit Wolfgang Wippermann

Wolfgang Wippermann, geb. 1945 in Bremerhaven. Studium der Geschichte, Germanistik und Politischen Wissenschaft in Göttingen und Marburg. Professor für neuere Geschichte an der Freien Universität Berlin. Gastprofessuren in Österreich, China und den USA. Zahlreiche Publikationen über die deutsch-polnischen Beziehungen sowie über Bonapartismus, Faschismus, Antisemitismus und Antiziganismus. Zuletzt:
"Wie die Zigeuner". Antisemitismus und Antiziganismus im Vergleich, Berlin 1997;
Wessen Schuld? Vom Historikerstreit zur Goldhagen-Kontroverse, Berlin 1997;
Umstrittene Vergangenheit. Fakten und Kontroversen zum Nationalsozialismus, Berlin 1998;
Konzentrationslager. Geschichte, Nachgeschichte, Gedenken, Berlin 1999,
zusammen mit Werner Loh (Hrsg.), "Faschismus" - kontrovers, Stuttgart 2002

ZAG: Herr Wippermann, Zigeuner einerseits, Roma und Sinti andererseits. Sind dies zwei Varianten mit gleichem Inhalt?

Wolfgang Wippermann: Mit der -negativ konnotieren- Fremdbezeichnung "Zigeuner" und der -in Deutschland verwandten- Selbstbezeichnung "Sinti und Roma" wird ein Volk bezeichnet, das ursprünglich aus Indien stammt und über Persien und die heu-tige Türkei im 13. Jahrhundert nach Europa eingewandert ist. Ähnlich wie das deutsche Volk zerfällt es in verschiedene Stämme. Angehörige des Stammes der "Sinti" sind bereits zu Beginn des 15. Jahrhunderts nach Deutschland (bzw. in das damalige "Heilige Römische Reich Deutscher Nation") gelangt.
Seit dem 19. Jahrhundert kamen noch "Roma" aus Südosteuropa hinzu. Dies erklärt den in Deutschland verwandten Doppelbegriff der "Sinti und Roma". In anderen Ländern wird das gesamte Volks als "Roma" bezeichnet. Zu Verdeutlichung kann man sagen, dass "Sinti und Roma" so etwas ist wie `Bayern (oder: Hessen; Sachsen, Westphalen etc.) und Deutsche.

ZAG: Findet das Wort „Zigeuner“ in der Öffentlichkeit eigentlich noch Verwendung?

Wolfgang Wippermann: Leider wird die, wie gesagt, negativ konnotierte Fremdbezeichnung "Zigeuner" immer noch in der Öffentlichkeit verwandt. Dies geschieht keineswegs nur aus Unkenntnis und weil dies über Jahrhunderte so üblich war, sondern in der bewussten Absicht, die Sinti und Roma zu diffamieren, weil sie - so die sprachlich falsche Ableitung des Begriffs - "Zieh-Gauner" seien.

ZAG: Unter dem Begriff „Zigeuner“ wird eine bestimmte Gesellschaftsgruppe subsumiert, der eine ihr immanente homogene Kultur zugeschrieben wird.
Was sind historisch überhaupt „Zigeuner“?

Wolfgang Wippermann: Die Sinti und Roma gehören nicht zu einer "bestimmten Gesellschaftsgruppe", sondern zu einem Volk, das über eine gemeinsame Sprache -das Romanes- und eine spezifische Kultur verfügt. Beides - Sprache wie Kultur - sind aber keineswegs "homogen", weil die Roma sprachliche und kulturelle Elemente der Völker übernommen haben, unter denen sie lebten und leben. Uneinheitlich ist auch die Religion. Es gibt -so in Deutschland - sowohl Katholiken wie Protestanten wie - so in Osteuropa - Orthodoxe und auf dem Balkan auch Muslime. Große Unterschiede gibt es auch im Hinblick auf das Nationalbewußtsein. Einige Roma sehen sich primär oder gar ausschließlich als Angehörige eines Volkes, andere dagegen als nationale Minderheit. Letzteres ist etwa in Deutschland der Fall, wo die Sinti und Roma seit 1995 wie die Dänen und Friesen in Schleswig-Holstein und die Sorben in der Lausitz als nationale Minderheit anerkannt sind. Dies entspricht auch dem Selbstverständnis ihrer Interessenvertretung, die sich bewußt "Zentralrat deutscher Sinti und Roma" nennt. Insgesamt ist der Prozess der Nationsbildung bei den Roma noch nicht abgeschlossen. Es ist sogar möglich, dass sie ihn niemals beenden oder gar einfach überspringen werden.

ZAG: Das Stereotyp, das sich hinter dem Begriff „Zigeuner“ verbirgt, hält sich hartnäckig seit Jahrhunderten aufrecht. Mit den Worten von W. D. Hund lässt es sich gut mit den drei Adjektiven fremd, faul und frei umschreiben.
Woher rührt die Beständigkeit dieses Stereotyps?

Wolfgang Wippermann: Nach den letzten vorliegenden Umfragen sind zwischen 64 und 68 Prozent der deutschen Mehrheitsgesellschaft antiziganistisch eingestellt. Früher, als derartige Umfragen noch nicht durchgeführt worden sind, werden es noch mehr gewesen sein. Antiziganismus ist das am tiefsten verwurzelte und am weitesten verbrei-tete Vorurteil überhaupt. Über kein Volk wissen die Deutschen so wenig und zugleich so viel Vorurteilhaftes wie über die Roma. Um dies zu verstehen, muß man etwas weiter ausholen. Ähnlich wie der Antisemitismus setzt sich der Antiziganismus aus religiösen, sozialen und rassistischen Vorurteilen zusammen. Juden und Roma wurde und wird einmal eine enge Beziehung zum Teufel unterstellt. Juden gelten nach Jo-hannes 8, 44 als "Teufelskinder". Roma hätten mit dem Teufel ihre -angeblich- schwarze Haut- und Gesichtsfarbe gemein und von ihm ihre -ebenfalls angeblichen- magischen Fähigkeiten erworben. Während Juden direkt für den Tod von Jesus Christus verantwortlich gewesen sein sollen, wurde Roma unterstellt, die Nägel, und zwar besonders spitze, für das Kreuz geschmiedet zu haben. Eine weitere Schuld hätten sie deshalb auf sich geladen, weil sie die Heilige Familie auf ihrer Flucht nach Ägypten nicht beherbergt hätten. Zu diesen religiösen kamen und kommen die sozialen Vorurteile. Auch hier gab es zumindest Parallelen zwischen Antisemitismus und Antiziganismus. Juden wie Sinti und Roma galten zumindest noch in der frühen Neuzeit als fremd, faul und sozial nicht angepasst. Dieser Vorwurf wurde auch noch den im 19. Jahrhundert aus dem Osten nach Deutschland eingewanderten sog. "Ostjuden" gemacht. Die inzwischen akkulturierten und emanzipierten deutschen Juden galten dagegen als zu angepasst, zu reich und zu mächtig. Anders dagegen die Sinti und Roma. Ihnen wurde und wird zum Teil noch häufig vorgeworfen, sich nicht anpassen zu wollen. Tatsächlich war es genau umgekehrt. Die Sesshaftmachung der Sinti und Roma wurde bewusst verhindert. Dennoch schafften es immer mehr von ihnen, und heute sind wirklich alle deutschen Sinti und Roma sesshaft. Was schließlich die rassistischen Bestandteile von Antisemitismus und Antiziganismus angeht, so gibt es eine weitgehende Kongruenz. Juden wie Roma galten nämlich als Angehörige einer "fremden" und "minderwertigen Rasse", weshalb Juden wie Roma in der NS-Zeit auch aus vergleichbaren rassistischen Motiven ermordet wurden. Doch dieses Faktum wurde nach 1945 geleugnet. Dies ist ein weiterer und vermutlich sogar der entscheidende Grund, dass die antiziganistischen Vorurteile nach 1945 bruchlos tradiert und teilweise sogar noch radikalisiert wurden.

ZAG: Nicht nur einige Ethnologen mächten den Begriff „Zigeuner“, schlicht als Bezeichnung einer bestimmten gesellschaftlichen Gruppe, wertfrei verstanden wissen. Ist dies ihrer Meinung nach überhaupt möglich?

Wolfgang Wippermann: Wenn einige Ethnologen, Soziologen und selbsternannte "Tsiganologen" in den Sinti und Roma eine gesellschaftliche "Randgruppe" und kein Volk oder nationale Minderheit sehen wollen, so ist dies erstens falsch und zweitens antiziganistisch motiviert.

ZAG: Spätestens seit den „Studien zum autoritären Charakter“ wissen wir, dass antisemitische Einstellungen nichts mit Juden zu tun haben, dagegen aber sehr viel mit denen die sie äußern. Gilt dies auch für antiziganistische Einstellungen?

Wolfgang Wippermann: Antiziganismus, Antisemitismus und Rassismus generell sind bei Angehörigen der Mehrheitsgesellschaft anzutreffen, ausschließlich hier entstanden und daher auch ein Problem nicht der jeweiligen Minderheit, sondern der Mehrheitsgesellschaft.

ZAG: Vermutlich müßten wir uns „auf der Straße“ nicht lange umhören, um eine Vorstellung von gängigen stereotypen Bildern des „Zigeuners an sich“ zu erhalten, die evtl. durch jeweils persönliche Erfahrungen belegt werden könnten. Gibt es ihrer Meinung nach Möglichkeiten solche „empirisch belegten“ rassistischen Vorurteile aufzulösen?

Wolfgang Wippermann: Grundsätzlich ja! Doch dies kann nur durch eine Veränderung der Perspektive geschehen, denn wir, die Angehörigen der Mehrheitsgesellschaft und nicht die Sinti und Roma müssen unsere antiziganistischen Vorurteile überwinden. Dies setzt Kenntnisse voraus, wann, wie und warum diese Vorurteile entstanden sind. Doch daran mangelt es. Im Unterschied etwa zum Antisemitismus steht die Erforschung der Geschichte, Funktion und Wirkung des Antiziganismus erst am Anfang. Innerhalb der Schule und der Politischen Bildung wird das Thema nach wie vor so gut wie gar nicht behandelt. Doch Aufklärung (worüber noch viel mehr zu sagen wäre) allein reicht nicht. Notwendig ist ferner die Kritik und Tabuisierung der antiziganistischen Vorurteile in Politik, Gesellschaft und vor allem den Medien, wo die Sinti und Roma nach wie vor meist nur negativ als "Zigeuner" wahrgenommen werden. All dies hat auf Seiten der Mehrheitsgesellschaft zu geschehen. Darüber hinaus ist die Tätigkeit der Sinti und Roma und ihrer Repräsentanten im Bereich ihrer Bürgerrechts- und Kulturarbeit zu unterstützen. Ihre grundsätzliche Anerkennung als nationale Minderheit ist zwar erfolgt, aber noch längst nicht umgesetzt worden. Sie müssen weitere Unterstüt-zung für ihre kulturelle, schulische und soziale Arbeit erhalten. Am wichtigsten erscheint mir persönlich jedoch die Anerkennung der Tatsache zu sein, dass an dem Volk der Roma ein rassistisch motivierter Völkermord verübt worden ist, für den das Kollektiv der deutschen Täter die historische und moralische Verantwortung trägt.

Interview: Jana Seppelt (ZAG), Albert Zecheru (ZAG)

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