Du bist Europa

Seit gut 40 Jahren gibt es Bestrebungen, die Türkei politisch wie wirtschaftlich an die EU zu binden. Der von der Türkei vollzogene Beitritt zur Zollunion war der bisher letzte Akt dieser Annäherung, die vor allem der EU Vorteile für Investitionen und im Export brachte. Das führt zu der Frage, ob die Türkei als Vollmitglied in der EU aufzunehmen ist. Alle bisherigen Unternehmungen bieten genau dafür eine solide Basis. Die Panik, die sich an dieser Frage in der veröffentlichten Meinung entzündet, kann also nicht an den Überraschungseffekt liegen, mit der die Option eines Beitritts durch die Medien rauschte. Die vollzogene Osterweiterung der EU mit einer weitaus kürzeren Vorgeschichte löste bei weitem nicht derartige Ressentiments aus.

Deutschland ist in dem Integrationsprozess der Türkei ein wichtiger Faktor, leben hier doch etwa 2,5 Millionen TürkInnen. Über 700.000 sind eingebürgert. Es ist das Land, in dem die meisten türkischsprachigen MigrantInnen ihren Lebensmittelpunkt haben. Verbunden mit der Tatsache, dass die Türkei ein gern besuchtes Reiseland ist, trügt dennoch die Hoffnung, dass die Diskussionen um eine volle EU-Mitgliedschaft nicht entlang rassistischer Ressentiments verlaufen würde. Das Gegenteil ist der Fall: »In der Europäischen Union herrscht das Prinzip der Freizügigkeit. Jeder darf dort hinziehen, wo es ihm gefällt. Das gilt auch für die Türken als Mitglieder der EU – selbst wenn Brüssel Übergangsfristen von bis zu sieben Jahren wie im Falle Polens einführen sollte. Die Freiheit brächte viele anatolische Bauern auf die Beine. Experten fürchten, dass bis zu drei Millionen Menschen gen Nordwesten ziehen könnten. Etwa 15 Millionen Moslems leben in der EU, allein in Deutschland 2,5 Millionen Türken. Von Ausnahmen abgesehen, ist ihre Integration gescheitert. Eine türkische Masseneinwanderung würde die Probleme nur noch verschärfen.« (Die Welt, 24. September 2004)

Die Haltungen zu einem Beitritt der Türkei gehen in den Mitgliedsstaaten der EU weit auseinander. In Deutschland wird von der Kanzlerin eine sogenannte »Privilegierte Partnerschaft« in Aussicht gestellt. Deren Inhalt weiß sie selbst jedoch nicht wirklich zu formulieren. Die Gegner einer wie auch immer gearteten Mitgliedschaft der Türkei bringen gerne die in ihren Augen misslungene Integration der türkischen MigrantenInnen in Anschlag. Diese böten ihrer Ansicht nach einen Vorgeschmack auf die Probleme, die mit einem Beitritt der Türkei auf die EU zukommen würden. Grund dafür ist für diese Multikulturalisten, die in ihren Augen unüberwindbare Bedeutung unterschiedlicher »kultureller Wurzeln«, sowie Defizite gegenüber einer in Europa sehr weit gediehenen demokratischen Sozialisation. Als bestimmendes Moment für Kultur wird hierbei kurioser Weise die Religion stark gemacht. Sie entspricht in ihrer Abgrenzung der so pathetisch klingenden »Achse des Bösen«. Hier die jüdisch-christlichen Kulturnationen und dort »geläuterte islamische Barbaren«.

Wurden noch in den 80ern Panzer in die Türkei verkauft, mit dem Hinweis auf den Säkularisierungs- und Demokratisierungsprozess in der Türkei und Anfang der 90er dankbar NVA-Restbestände dorthin entsorgt, so wird nun das Gegenteil attestiert und gegen einen Beitritt gebraucht. Es sind gerade wieder der aufkeimende Islamismus und schwere Mängel im Demokratisierungsprozess, die die Türkei von der EU trennen.

Einzuwenden wäre nun, dass die damaligen Rüstungslieferungen geostrategischen Überlegungen folgten, die noch dem Kalten Krieg geschuldet waren und die Türkei als Mitglied der Nato ­betraf; die »Achse des Bösen« also noch anders ausformuliert wurde. Doch ist der politische Anpassungsprozess der Türkei an die EU mittlerweile um einiges fortgeschritten.

Es scheint so zu sein, dass die EU bei den Beitrittsverhandlungen mit der Türkei plötzlich auf ihre eigenen Ursprünge als EWG zurückgreift. Als wirtschaftlicher Zusammenschluss gibt es für die EU seit dem Beitritt der Türkei als bisher einziges Nicht-EU-Land zur Zollunion keine weitere Notwendigkeit die Einbindung der Türkei zu forcieren. Wirtschaftlich ist die Türkei für die EU-Mitgliedstaaten offen. Werden sonst im politischen Alltag Zweifel, Differenzen und Defizite gerne rhetorisch als anspornende Hürden verkauft, so werden sie in diesem Fall gerne als unüberwindlich dargestellt. Im gleichen Zuge wird gegen einen Beitritt nicht weniger als das Auseinanderbrechen der ganzen EU in Anschlag gebracht: »In dem Versuch, Europa aus den Trümmern des Weltkrieges zu führen und es zu einen, lag stets auch die Idee, ›eine Art Vereinigte Staaten von Europa‹ zu schaffen, wie es Winston Churchill 1946 in seiner Züricher Rede formulierte. Bis heute halten die meisten Mitglieder der EU daran fest. Beleg dafür ist die Umbenennung der ›Europäischen Gemeinschaft‹ in ›Europäische Union‹, von der Einführung einer gemeinsamen Währung zu schweigen. Will man den Unionscharakter bewahren, will man die Union vertiefen, ist ein europäisches Wirgefühl von Nöten. Ein EU-Beitritt der Türkei – in 20 Jahren das bevölkerungsreichste Land der EU – brächte die wirklich europäischen Staaten auseinander.« (Die Welt, 24. September 2004)

Mit dieser Ausgabe haben wir wieder versucht die Rassis­men, die bei diesem Thema zu genüge zum Tragen kommen, genauer unter die Lupe zu nehmen. Im folgenden werden wir nun ein paar Einblicke in kulturalistische Diskurse liefern, die sich an den Vorbehalten gegenüber einem EU-Beitritt der Türkei zeigen.

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