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Männlich, Muslim, Migrant

Ein Schulprojekt in Berlin-Neukölln

Borris Diederichs

Der Verband für Interkulturelle Arbeit (VIA e.V) arbeitet in Neuköllner Schulen, um präventiv gegen individuelle und strukturelle Diskriminierungen vorzugehen. Dabei werden Workshops und Trainings mit SchülerInnen konzipiert, in denen Strategien entwickelt werden, die erlebten Diskriminierungen zu artikulieren und das eigene stereotypisierende Denken zu hinterfragen, sowie das Verhalten im schulischen Alltag zu reflektieren. Zusätzlich werden auch Seminare mit LehrerInnen und SozialarbeiterInnen durchgeführt, in denen die eigenen Vorurteile und der Umgang mit den SchülerInnen thematisiert werden. Um die Projektinhalte nachvollziehen zu können, ist es sinnvoll einige Beispiele aus der Projektarbeit zu nennen:

Die Drei M’s

»Schon im Grundschulalter werden Rollen zugeteilt und den Kindern mit Migrationshintergrund suggeriert, dass sie später keine Chance haben, wenn sie sich nicht besonders anstrengen.« (O-Ton eines Mitarbeiters des Jugendzentrums UFO in Neukölln). Besonders von Jungen mit türkischem oder arabischem Migrationshintergrund wird erwartet, dass sie irgendwann gewalttätig werden und ein »Machoverhalten« (O-Ton einer Lehrerin in Neukölln) annehmen. Demnach stehen sie immer unter besonderer Beobachtung und werden in bestimmte Rollenmuster gedrängt, was sich nachhaltig auf ihren Identitätsprozess und späteres Verhalten auswirkt. Da insbesondere die Jungen mit Migrationshintergrund in allen relevanten Studien zu Bildung und Berufsaussichten schlecht abschneiden und durch Gewaltanwendung die Mediendebatten dominieren, aber Programme zur Förderung von Jungenarbeit kaum existieren, scheint hier extremer Nachholbedarf zu existieren.

Andere persönliche Erfahrungsbeispiele zeigen, dass bei vielen LehrerInnen keine Sensibilität für Identitätsentwürfe von Jugendlichen vorhanden ist: Wenn einem 13jährigen Jungen, der sich als Muslim definiert, von einem Lehrer vorgeworfen wird, »dass es absolut begrenzt sei, sich über seine Religion zu definieren« oder in der Pause eines Workshops von einer Lehrerin aus Kreuzberg geraten wird, »sich nicht mehr um die (gemeint ist ein Mädchen mit Kopftuch) zu kümmern…, die wird eh bald zwangsverheiratet«, dann zeigt das die tief verankerten Vorurteile großer Teile des Lehrkörpers.

Daraus resultieren alltägliche Mehrfachdiskriminierungen der Jugendlichen in Korrelation der Merkmale Religion, ethnische Herkunft und Geschlecht.

Zudem bildet ein Lehrkörper, der zu hundert Prozent aus autochthonen Deutschen besteht, im Altersdurchschnitt über 50 Jahre ist und sich nicht unbedingt für Jugendkultur interessiert, wenig Identifikationsfläche für eine SchülerInnenschaft, die sich in manchen Schulen aus bis zu hundert Prozent Jugendlichen mit Migrationshintergrund konstituiert. Demotivierte, teilweise völlig überforderte und ausgebrannte LehrerInnen (O-Ton eines Lehrers in Neukölln: »Ich schaffe es gerade noch zur Tagesschau, dann schlafe ich ein«) bieten in diesen Fällen nicht den Rahmen, eine wirklich produktive Lernatmosphäre herzustellen.

Diskriminierung ist keine Einbahnstraße

Doch nicht nur die Stigmatisierungen der PädagogInnen beeinflussen den Identitätsbildungsprozess der Kinder und Jugendlichen: Diskriminierung und Identitätsentwicklung sind nicht ausschließlich eindimensional zu betrachten. Auch SchülerInnen diskriminieren täglich andere SchülerInnen, pädagogische MitarbeiterInnen und LehrerInnen. Dabei sind zwar immer die bestehenden Machtverhältnisse zu berücksichtigen, aber der übliche Sprachgebrauch von Jugendlichen ist von Ausgrenzung, Mobbing und Zuschreibungen dominiert.

Als behindert, schwul oder Jude wird jede, jeder und alles bezeichnet, die, der oder das nicht der Norm entspricht. Kümmeltürke oder Dönerfresser für »Türken«, Landlose für »Kurden«, Kartoffel für »Deutsche« sind Bezeichnungen, die von vielen Jugendlichen verschiedenster Herkünfte benutzt werden. Zuschreibungen wie »Du bist kein echter Türke, weil du Schweinefleisch isst« zeigen implementierte Verhaltenweisen bereits bei GrundschülerInnen.

Natürlich ist Jugendsprache auch ein temporäres Phänomen, aber die Entwicklung kollektiver Identitätsmuster als Abgrenzung und Abwertung anderer ist auch eine Art Schutzfunktion gegen die Zuschreibungen als »Gesellschaftsverlierer« vieler LehrerInnen, PolitikerInnen und Medien. Gerade für die oben beschriebenen Identitätsprozesse und Kommunikationsmuster sollten beim Lehrkörper, sowie bei ErzieherInnen und SozialpädagogInnen eine Sensibilisierung erzielt werden.

Alle Akteur/innen mit einbeziehen

Dennoch wäre es fatal bestimmte Defizite im Bildungssystem nur auf die Situation in den Schulen zurückzuführen. Der Fokus der Debatte über die Verbesserung der Bildungssituation von Jugendlichen mit Migrationshintergrund sollte dennoch eher auf die Sensibilisierung der Lehrkräfte und den täglichen Umgang mit ihrer Zielgruppe gerichtet werden, als auf die Einführung von Quoten.

In der Diskussion über Lösungsansätze sollten alle Sozialisationsinstanzen berücksichtigt werden und alle Akteure dieser miteinbezogen werden. Konkret könnte das für Schulen und Politik bedeuten, die Kommunikation mit Eltern, Jugendeinrichtungen, Communities, religiösen Autoritäten, freien Trägern und wissenschaftlichen Instituten zu intensivieren und von generellen Schuldzuweisungen abzusehen.

Eindimensionale Strategien reichen nicht aus

Die Schule bleibt neben Familie und Peergroup die wichtigste Sozialisationsinstanz für Kinder und Jugendliche, in welcher der Lehrkörper als zentraler Akteur der Wissens- und Wertevermittlung fungiert.

Neben der Entwicklung von neuen didaktischen Methoden sollte bei der Aus- und Weiterbildung der LehrerInnen in erster Linie darauf geachtet werden, dass Wahrnehmungsmuster und daraus resultierende alltägliche Verhaltensweisen hinterfragt und neu konzipiert werden.

Aus eigenem Interesse sollte der Staat ausreichend Mittel in die Aus- und Weiterbildung des Schulpersonals investieren, beziehungsweise für die Rahmenbedingungen eines erträglichen Schulalltags sorgen. Das hätte den Vorteil, nicht kostenintensive Programme auflegen zu müssen, um die Defizite im Nachhinein zu kompensieren.

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