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MAN IST NICHT VON ANFANG AN EIN KOLLEKTIV, DAS MUSS MAN LERNEN.

INTERVIEW DER ZAG MIT WILLI SCHWARZ VON DER AG BERATUNG

Die AG Beratung unterstützt selbstverwaltete, gleichberechtigt und kooperativ geführte Betriebe, Projekte und Initiativen. Sie sind eine Gruppe von zehn Menschen, die in diesem Projekt ihre intimen Kenntnisse des Innenlebens von Hausprojekten oder Kollektiven in der Arbeitswelt einbringen. Ihr Ziel ist es, die Selbstorganisation der Projekte zu fördern und die immer wieder auftretenden Schwierigkeiten bei der Umsetzung im gemeinsamen Interesse der Kollektive zu bewältigen: wie soll entschieden werden, wie gehen wir im Streitfall miteinander um und wie können wir unsere selbst gesteckten Ziele erreichen?

ZAG: Kollektiv ist ein schillernder Begriff. So etwas wie Kollektive gibt es ja nicht als Rechtsform wie beispielsweise Verein, GmbH, Genossenschaft oder GbR. Wenn es nicht die rechtliche Form ist, was macht dann ein Kollektiv in eurem Sinne aus?

Willi: Es gibt keine allgemeingültige Definition für Kollektive. Insbesondere in den 90er Jahren haben viele der von uns beratenen Gruppen diesen Begriff für sich abgelehnt.
Allgemein kann man jedoch sagen, dass die Selbstdefinition vieler Projekte auf einer Abgrenzung gegenüber marktwirtschaftlichen, kapitalistischen Strukturen beruht – da spielt insbesondere die Eigentümer_innen und Organisationsstruktur eine Rolle – und auf einem Gruppenzugehörigkeitsgefühl.
Aus unserer Erfahrung können wir sagen, wünschen die uns aufsuchenden Gruppen einen gleichberechtigten Umgang miteinander und gemeinsame Verantwortung. Es gibt einen fest definierten Personenkreis sowie eine konsensuale Definition gemeinsamen Handelns. Zudem sorgen sie sich häufig bereits zu Beginn um Regeln für den Umgang miteinander und mit Problemen – das ist wichtig.

ZAG: Gleichberechtigt miteinander arbeiten und leben, Kooperation und Selbstorganisation sind Ansprüche, die in profitorientierten Unternehmen nicht, oder zumindest nicht als Zwecke zum Zuge kommen. In selbst organisierten Prozessen, die vielleicht auch so etwas wie lebendige Experimente im Zusammenleben sind, da muss sich über das Ziel wie auch über den Weg dorthin Klarheit verschafft werden. Kollektiv zu agieren scheint viel schwieriger zu sein als die ausgetretenen Pfade zu nehmen. Mit welchen Motiven gehen die Leute an die Gründung von Kollektiven heran?

Willi: Motive könnten heute nicht verschiedener als vor 20 Jahren sein. Dabei muss man sagen, dass sich die Motive nicht wirklich aufgefächert, sondern sich nahezu komplett verändert haben. Sie sind heute sehr viel individuelleren Ursprungs. Von ökonomischer Sicherheit, der Kontinuität von theoretischer Analyse zu praktischem Ansatz, zu sozialer Einbindung, Selbsterfahrungstendenz oder der Lückenfüllung bis zum Studienbeginn taucht eine Bandbreite an Motivationen auf.

ZAG: Durch eure Beratungen erhaltet ihr ja immer wieder Einblick in kollektive Strukturen. Welche Probleme treten dort regelmäßig auf?

Willi: Die Kehrseite der Gründe, dass sich Leute in Kollektiven organisieren, findet sich in vielen Gruppenproblemen wieder: Kommen Menschen eher aus defizitären Lebenssituationen, können – oder wollen – zum Beispiel den Anforderungen des Arbeitsmarktes nicht genügen, kann es schnell zu Konflikten bezüglich Marktförmigkeit oder Political Correctness im Projekt kommen. Eine eingeschliffene Rollenverteilung, die damit oft einhergehende Hierarchisierung, ein offensives Redeverhalten oder auch Generationenkonflikte lassen Gruppen oft an uns herantreten.
Geben zum Beispiel die Älteren in einer Gruppe ihr Wissen nicht mehr weiter, weil sie bestimmte Konflikte eben »schon tausendmal diskutiert« hätten, stellt dies ein Hindernis für Jüngere dar, einen Platz in der Gruppe einzunehmen, der sie in einen gleichberechtigten Austausch treten lässt. Hier müssen auch die Älteren lernen, dass ein Kollektiv nicht vom Himmel fällt, sondern gelernt sein muss.
Zudem sind Orte, an denen Selbstverwaltung abseits von Selbstverwertung praktiziert wird, kleiner geworden. Viele Jüngere bringen nicht von sich aus das Wissen oder die Erfahrung mit übergreifenden Organisationsstrukturen mit. Andererseits besitzen viele junge Menschen heute ein größeres Maß an Reflexionsbereitschaft als zur Zeit meiner politischen Sozialisation. Sie kommen oft schon vor der Gründung der eigenen Gruppe zu uns. Die müssen dann nicht die gleichen Fehler machen, die wir gemacht haben.
Geschlechterkonflikte treten demgegenüber in unserer Beratung eher in den Hintergrund.

ZAG: Das spiegelt weniger unsere Erfahrung in linken Gruppen wieder …

Willi: Ich sage nicht, dass es diese nicht gibt. Jedoch sind sie bei uns nicht oder nur sehr selten Grund der Beratung.
Eine andere Sache, die viele unterschätzen, ist auch die persönliche Einbindung in ein Kollektiv. Gruppenprozesse erfordern eine hohe empathische und persönliche Einlassung, was wiederum eine größere Verletzlichkeit mit sich bringt. Die beiden Ebenen – Organisationsziel und persönliche Einbindung – sind wichtige Momente, die es in Gruppenarbeit zu vereinen gilt. Erst dann ist wirklich von einem emanzipativen Umgang miteinander zu sprechen.

ZAG: Woher rühren Probleme, die Gruppen zu euch kommen lassen? Sind es eher strukturell bedingte Konflikte, wie ökonomische Probleme, aus denen sich asymmetrische Gruppendynamiken entwickeln?

Willi: Rein ökonomische Probleme sind nach unserer Erfahrung nur bei unkalkulierbarer Überschuldung problematisch. Die Konflikte spielen sich eher auf intersubjektiver Ebene ab: Kollektive unterliegen einer ständigen Überprüfung: Sind die ursprünglich verfolgten Ziele noch vorhanden? Oft gibt es in länger bestehenden Gruppen eine gewisse Desillusionierung – die jedoch, und das versuchen wir zu vermitteln, in ihrer Verschiedenheit eine Stärke der Gruppe ist. Menschen wachsen an ihren Eindrücken, verändern sich, müssen zugleich externen, individuellen wie gesellschaftlichen Prozessen genügen. An diesen Transformationsprozessen kann sich das Zugehörigkeitsgefühl einer Gruppe schärfen.
Wir beraten häufig zu problematischen Kommunikationsgewohnheiten oder auch zu unklaren Zielsetzungen: Häufig gibt es eine Verwechslung von Weg und Ziel: Kauft sich eine Gruppe ein Haus, sind die Gruppenbildungsprozesse damit nicht abgeschlossen. Viele Projekte scheitern bereits daran, dass sie mit dem Hauskauf ein fertiges Projekt vor sich sehen.

ZAG: Im Alltag von Initiativen übernehmen bestimmte Leute bestimmte Aufgaben und es schleifen sich Verhaltensweisen ein. Wann wird das zum Problem? Wie lässt sich so was im alltäglichen Miteinander vermeiden?
Oft gibt es eine Diskrepanz zwischen dem eigenen Anspruch und eingeschliffenen Verhaltensweisen. Dies zu analysieren und aufzulösen führt häufig zu einer Überforderung der Gruppe, da die Verfolgung der eigenen Ziele und die gleichzeitige Überprüfung der internen Gruppendynamik nicht geleistet werden kann. An diesem Punkt können wir als AGB beratend eingreifen.
Wir raten zum Beispiel zur Jobrotation, damit jedes Gruppenmitglied Einblick in die verschiedenen Tätigkeiten bekommen kann. Auch Wissensbildungsprozesse sollten unseres Erachtens im Rotationsprinzip stattfinden. Zugleich halten wir eine Trennung von Amt und Funktion hoch, damit nicht eine Person für alle Bereiche verantwortlich ist und andere keine Tätigkeit übernehmen.
Relativ früh raten wir Gruppen zur Kooperation mit einer weiteren Gruppe. Somit kann ein Abgleich und Wissensaustausch stattfinden. Auch eine Ruhephase und räumliche Trennung, zum Beispiel ein gemeinsamer Wochenendausflug kann helfen. Oft ist auch schon ein Kollektivtag hilfreich.

ZAG: Ihr beratet die Gruppen ergebnisoffen bzw. schaut, was das richtige für die Gruppe sein könnte. Wenn aber die Konflikte manifest geworden sind, wenn die Milch verschüttet ist, ist es dann nicht bereits zu spät?

Willi: Ganz wichtig ist: Scheitern ist der Normalfall, nicht die Ausnahme! Gruppen haben eine begrenzte Halbwertszeit und oftmals ist es geraten, das in der einen Gruppe gelernte an anderer Stelle in anderer Weise einzubringen. Es ist wichtig, sich klarzumachen, dass Gruppenprozesse immer Experimente sind, die bis an einen bestimmten Punkt geführt werden konnten, an diesem aber zu Ende sind. Die Beendigung eines Projekts ist darum keine Niederlage, sondern ein notwendiger Schritt für emanzipative und freie Kollektivität: Immer wieder muss sich eine Gruppe selbst zusammensetzen und neu begründen: Mit wem, wann, wodurch, wo, wohin. Unser Rat lautet dann in manchen Fällen: An anderen Stellen weitermachen.

Aber noch mehr Gruppen gibt es, denen wir gar nicht erst zur Gründung raten. Oft kommen Personen aus diesen Zusammenhängen ein halbes Jahr später, mit anderen Personen und anderen Plänen wieder, die wir erfolgreich beraten können.

ZAG: Wenn am Ende Scheitern der Normalfall ist, was ratet ihr den Gruppen vorab, bei Gründung zu beachten?

Willi: Gruppenmitglieder sollten sich gründlich kennenlernen und ihre Motive, ihre Unterschiede genauestens erforschen – die Gemeinsamkeiten ergeben sich von ganz allein. Das Umfeld sollte von Anfang an mit einbezogen, ein Plan B erstellt, die Erfahrung anderer Projekte genutzt werden.

ZAG: Wenn sich die Gruppen bereits zu Anfang Gedanken über die Auflösung des Projekts machen müssen, erscheint uns das sehr demotivierend zu sein.

Willi: Im Gegenteil: Unklare Abläufe bei Konflikten schüren unbewusste Ängste. Das bereitet keine Entscheidungsalternative vor und Machtstrukturen drohen sich durchzusetzen. Gibt es einen vorher festgelegten Umgang mit Schwierigkeiten, der alle beteiligt, ist Machtkämpfen ein Riegel vorgeschoben und ein Ausweg aus festgefahrenen Widersprüchen möglich. Eine Gruppe von einem solchen Ende her zu denken, ist daher eine große Bereicherung für diese.

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