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Das dumme Spiel der schlafenden Schönheit

Kolonialismus und Kapitalismus

Leila van Rinsum

»This huge task which consists of reintroducing mankind into the world, the whole of mankind, will be carried out with the indispensable help of the European people (...). To achieve this, the European people must first decide themselves and shake themselves, use their brains and stop playing the stupid game oft the sleeping beauty.« -Frantz Fanon

Kolonialismus wird in Europa gern als geschichtliches Ereignis beschrieben, irgendwann mal hatten europäische Nationen am anderen Ende der Welt Kolonien, die schließlich unabhängig wurden – und sowieso, haben wir denen nicht auch Schulen und Eisenbahnen gebaut?
Mit selbsterhaltender Scheinheiligkeit, tief verwurzeltem Rassismus und selektivem Gedächtnis negieren wir Europäer intuitiv jegliche Zusammenhänge zwischen unserem heutigen Wirtschaftssystem und kolonialen Strukturen, zwischen Rassismus und Kapitalismus und zwischen unserem Wohlstand und der kontinuierlichen Unterdrückung, Ausbeutung, dem Morden, der Gewalt und der Enteignung so vieler Völker dieser Erde sowie der Erde selbst.

Profit heiligt die Mittel

Vor etwa 500 Jahren beginnt die Ausbreitung Europas vernichtender Gewalt in der Welt und »entdeckt« Gebiete, die längst bewohnt sind. In deren Zusammenstoß werden die meisten Bevölkerungen komplett oder beinahe ausgerottet, wie in Ozeanien, Nordamerika oder den Karibischen Inseln.

Um die Nachfrage an freier Arbeitskraft in den amerikanischen und asiatischen Kolonien zu sättigen, wandelt Europa Afrika in ein riesiges Menschenarsenal; viele Millionen Afrikaner werden im Sklavenhandel um die Welt geschifft, viele mehr sterben. Bereits hier wird rassistisches Gedankengut im europäischen Bewusstsein verwurzelt und erlaubt die Plünderung und Ermordung im Namen des Handels und Fortschritts mit dem Segen des christlichen männlichen weißen Gottes.

Als der Sklavenhandel nicht mehr lukrativ ist, bekämpfen die Europäer, allen voran die Briten, großzügig die nun menschenunwürdige Praxis. Dabei gehen sie gegen die arabischen und afrikanischen Sklavenhändler vor und beginnen die Kolonisierung. Denn um Profit vom mineralreichen afrikanischen Kontinent zu »erwirtschaften«, brauchen Europäer nun Kontrolle über Land und Arbeitskraft vor Ort. Hand in Hand mit der Kirche, die ihre in Europa schwindende Rolle wiederaufgreifen kann, und geleitet von den europäischen Handelsgesellschaften beginnt die »Erschließung« Afrikas.

Die nun aufsteigende Macht Deutschland ist spät dran, Gebiete in Amerika und Asien sind schon verteilt, und so ruft Bismarck zur berühmten Berliner Konferenz 1884/1885, um die Aufteilung Afrikas unter den europäischen Mächten zivilisiert zu organisieren. Nach diesen Beschlüssen erhält Deutschland Gebiete, die heute die Länder Namibia, Tansania, Ruanda, Burundi, Togo und Kamerun enthalten. Die Deutschen sind aber auch in Samoa, Neuguinea und der chinesischen Provinz Kiautschou.

Auch wenn die Kolonialherrschaft »nur« 30 Jahre umfasst, sind die Deutschen bekannt für ihre Grausamkeit, die Einführung früher Konzentrationslager, medizinischer Experimente und Zwangsarbeit, die mit Gewalt und Folter durchgesetzt wird. Überlebende des Genozids in Namibia berichten, wie Deutsche mit Babies »fangen« spielen, dabei werfen sie die Kinder in die Luft und fangen sie mit Speeren auf. Hundertausende Nama und Hereros werden ermordet und in die Wüste im Norden gedrängt, wo viele eingekesselt ohne Zugang zu Wasser sterben. Auf den gestohlenen Ländereien, die nun »befreit« von ihren ursprünglichen Bewohnern sind, lassen sich tausende Deutsche nieder; fast die Hälfte aller »Siedler« in den Kolonien landet in Namibia. In Tansania werden ganze Wälder und Felder verbrannt, um aufständische der Maji-Kämpfer auszuhungern.

Die Grundpfeiler des globalen Wirtschaftssystems sind gesetzt, untermauert mit sozialen und politischen Komponenten. Zentraler Kern ist die Enteignung der Afrikaner von ihren Ländereien und die Einführung eines Lohnsystems, das ihre Abhängigkeit von den Kolonialherren zementiert.

All dies fördert billigen Rohstoffabbau und -ausfuhr, wodurch zum einen die Kolonialisten, Handelsgesellschaften und Banken profitieren und zum anderen Europas Industrielle Revolution, die technischen Fortschritt und Reichtum nährt. Infrastrukturbau in den Kolonien erfolgt entlang wirtschaftlichem Nutzen und dem Komfort der dort lebenden weißen Bevölkerung. Gleichzeitig sind die Kolonien willkommene Märkte für Europas steigende Güterproduktion und deren Abfallware.

Kolonialismus im Wandel – SAPs und Entwicklungshilfe

Nach blutigen Freiheitskriegen bereiten die Kolonialmächte in Afrika nach und nach die Unabhängigkeit vor. In einigen Ländern in Afrika werden Wunschkandidaten eingesetzt, deren Interessen mit denen der Kolonialmächte übereinstimmen; oft sind sie in Europa ausgebildet, so wie Gandhi in Indien oder Präsident Kenyatta in Kenia. Wo dies nicht klappt, werden »ungeeignete« Kandidaten früher oder später aus dem Weg gezogen, wie Lumumba im Kongo oder Sankara in Burkina Faso. Jene, die sich weigern, wie Mugabe oder Nyerere, und andere wirtschaftliche, politische und soziale Systeme anstreben, sehen sich bald durch Sanktionen und die Mechanismen des globalen Finanzsystems unter Druck gesetzt.

In den meisten Regionen werden die vielen Unabhängigkeitskrieger, Frauen und Männer, die aktiven Widerstand geleistet haben, bei den Verhandlungen nicht mit an den Tisch gebeten und ihre Forderungen zum Beispiel nach Land aus den Unabhängigkeitsverträgen und Verfassungen übergangen. Fragen der Kommunalisierung von Land, Umverteilung und Rückerstattung sind vom Tisch. Die Rhetorik von Frieden und Unabhängigkeit beschwingt dennoch Völker, die sich nach einer besseren Zukunft für ihre Kinder sehnen.

Namibia ist eine der letzten Kolonien, die unabhängig werden – erst 1990. Die Urdeutschen, nun »weiße Namibier«, setzen sich für die Instandhaltung des rassistischen Kolonialsystems ein. Sie wollen ihre Länder, ihre Vormachtstellung behalten. Deutschland hilft, die Unabhängigkeit vorzubereiten – in Zusammenarbeit mit Großbritannien, Canada, Frankreich und den USA in der sogenannten »Contact Group«, mit Mandat von der UN. Neben wohlklingenden Menschenrechten schreiben sie Provisionen in die Verfassung, die das Landrecht von Weißen sichern; die neue unabhängige Regierung kann lediglich Land zurück kaufen – auf freiwilliger Basis des Besitzers. Das Ergebnis ist, dass bis heute geschätzte 60-90 % des riesigen Landes in den Händen von weißen Namibiern sind, die rund 6 % der Bevölkerung darstellen. Die Zahl schwankt, weil viele weiße Namibier Länder an ihre Firmen übertragen haben, um den Privatbesitz zu mindern. Gleichzeit lebt die Mehrheit der schwarzen Bevölkerung zusammengepfercht in Armut, nun kämpft die junge Generation um Land.

In den 1980ern und 90ern schlägt die Schuldenfalle zu. Der Westen weigert sich, Reparationen zu zahlen, für Sklavenhandel, Kolonialismus oder die Genozide, Massenmorde und Gewalt, mit der sie die Kolonien erobert und erhalten haben, sowie die Grausamkeiten der Unabhängigkeitskriege. Stattdessen geben sie Kredite, von denen viele auf den privaten Schweizerkonten der Despoten landen, die im Zuge des Kalten Krieges an der Macht gehalten werden.

Das Schuldensystem ist ein wichtiger Aspekt des wandelenden Kolonialismus. Mit sogenannten »Structural Adjustment Programmes« (SAPs) steigen IWF und Weltbank, traditionell in den Händen Europas und der USA, in die Haushaltsplanung und Gesetzgebung der Schuldner ein. Sie privatisieren Gesundheit und Land, dazu Wasser und Elektrizität. Sie kürzen die Löhne von Angestellten im öffentlichen Dienst, Schulen, Krankenhäusern. Sie kürzen oder streichen Steuern für Firmen und vereinfachen den Zugang von Investoren zu Land und Ressourcen sowie Infrastrukturentwicklung. Dies geschieht ganz im Sinne von Konzernen und Investoren.

Teil des Systems sind Mechanismen billiger Arbeit; gerade genug, um zu überleben, und billig genug, um Milliarden Profite zu sichern. Der KIK-Vorfall ist nur eine der letzten an die Öffentlichkeit gedrungen Realitäten gängiger Praxis. Ein anderes sind Handelsabkommen. Die Forderungen von den sogenannten »Entwicklungsländern« sind mehr oder weniger die gleichen seit deren Unabhängigkeit, darunter unfaire Zölle und Agrarsubventionen. Als Kenia sich letztes Jahr weigert, die EPA-Handelsabkommen zu unterschreiben, wegen eben dieser Forderungen, setzt die EU Zölle ein, die binnen weniger Tage Millionen Schäden verursachen, vor allem für die Schnittblumenindustrie, die bekannt ist für niedrige Löhne und gesundheitsschädliche Arbeit. Dennoch ist der wirtschaftliche Schaden nicht haltbar für Kenias Elite, und das Land unterzeichnet letztendlich die Verträge.

Ein weiteres wichtiges Instrument des Kolonialismus ist Entwicklungshilfe. Nach dem Ende des Kalten Krieges sind die früheren Mächte nicht mehr so frei mit ihrem Geld. Der Geldfluss wird an Bedingungen geknüpft: Demokratie und Kapitalismus. Staatliche, aber auch nichtstaatliche Entwicklungshilfe, die vielen Nichtregierungsorganisationen (NROs), die in dieser Zeit aus dem Boden schießen, sind Teil des Systems. Sie füllen die sozialen Missstände, die durch die erstickende neoliberale Politik von IWF und Weltbank und staatlicher Entwicklungshilfe entstehen, geben Gesundheitsleistungen, die durch die Privatisierung unbezahlbar geworden sind, oder Sanitäranlagen, wo die Infrastrukturplanung und Landsysteme unterbezahlte Arbeiter in den Städten zusammenpferchen.

Noch immer kämpfen Menschen und soziale Bewegungen für Land, Wasser, Freiheit. Die NROs helfen, dies im Rahmen zu halten. Rechte statt Gerechtigkeit propagieren sie, moderater Wandel durch Gesetze. Statt Forderungen, Teile des von den Menschen und ihren Ländern erwirtschafteten Profits an die Menschen zurückzuführen, und statt Selbstbestimmung unterstützen NROs die Abhängigkeit der Menschen von ihnen. Und die Anzahl der NROs steigt noch immer kontinuierlich. Viele Menschen mit guten Absichten unterstützen dieses System, indem sie Teil davon werden, als Mittelsmänner agieren, »helfen«

Kolonialismus lebt

Derweil in Europa kommt wenig davon an. Wir lernen die Geschichte, von uns geschrieben, ohne jeglichen Selbstbezug. Der Genozid an den Herero und Nama, der nur 30 Jahre vor Hitler verübt wurde, wird erst dieses Jahr offiziell anerkannt, Reparationen sind gar nicht vorstellbar.

Aber nach der gängigen Geschichte ist Europa einzigartig; von den vielen intereuropäischen Kriegen ermüdet schließt es Frieden, floriert literarisch, künstlerisch, musikalisch, bildet Systeme, die auf Partizipation beruhen, Gerechtigkeit, Gleichheit, Brüderlichkeit. Als Dank steigt es wirtschaftlich auf, durch harte Arbeit und Innovation, und wird zum Vorreiter der Welt, um auch anderen das europäische Erfolgskonzept selbstlos zu übermitteln: »Christanity, Civilization and Capitalism«.

In dieser Geschichte ergibt es Sinn, dass Europa Friedensnobelpreisträger ist – für sich. Europa ist sein eigener Frieden. In dieser Geschichte sind wir stets die Guten, denn die weiße westliche Kultur versteht es, sich selbst zu belügen.

Sklavenhandel und Kolonialismus in Afrika beruhten auf der Konzeption, dass Schwarze, dass Afrikaner keine Menschen seien und dass Europäer ihnen helfen. Noch immer benutzen wir dieses Konzept, bringen damit afrikanische Geschichten zum Schweigen, verteidigen deren Ausbeutung als Wohltätigkeitsobjekte. Selbst in der heutigen »Flüchtlingskrise« sind die Afrikaner schnell vergessen – und sowieso – Wirtschaftsflüchtlinge haben erst gar keinen Anspruch, schließlich haben wir ja nichts mit deren Wirtschaftssystem zu tun.

Für Araber und Muslime aus dem mittleren Osten mussten wir uns ein anderes Konzept ausdenken, das unsere militärischen und wirtschaftlichen Methoden mittels Ressourcenkontrolle verschleiert – das Bild vom gewalttätigen, etwas schizophrenen Terroristen.

Es ist höchste Zeit, dass wir aus dem Schlaf der ewigen Schönheit erwachen und uns für ein ambitionierteres Wirtschafts- und Gesellschaftsmodell einsetzen, das nicht nur auf seiner Geschichte ruht.

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