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Biologismus

Ein Kategorienfehler, ein Programm und warum sie immer wieder auftreten

Frieder Otto Wolf

Jeder Biologismus beruht im Kern auf einem logischen Fehler, den wir den biologistischen Fehlschluss nennen können: Er wendet Kategorien auf einen Gegenstandsbereich an, die dort allenfalls eine metaphorische Bedeutung haben – als ob wir etwa psychische Prozesse als Ortsveränderungen von Seelen-Dingen zu beschreiben versuchten. Das führt dann zu irreführenden, in sich widersprüchlichen Vorstellungen, die ein klares Denken unmöglich machen.

Gilbert Ryle hat exemplarisch vorgeführt, dass etwa die Vorstellung, die menschliche Seele sei als ein »Geist in der Maschine« zu begreifen auf einem derartigen Kategorienfehler beruht. Dieser biologistische Kategorienfehler ist eng verwandt und zumeist verbunden mit den Denkfiguren des ›naturalistischen Fehlschlusses‹ in der Begründung von moralisch-politischen Forderungen, sowie eines weiteren Fehlschlusses, den wir den reduktionistischen Fehlschluss nennen können, wie er zumeist in der Begründung wissenschaftlicher Erklärungen auftritt: Zwar ist nicht bereits, wie Ludwig Wittgenstein in den 1930er Jahren gemeint hat, jeder Versuch grundsätzlich fehlerhaft, etwas als etwas anderes zu bezeichnen (also etwa eine Fläche als farbig oder Ludwig Wittgenstein als einen Philosophen) und also überhaupt etwas Anderes als bloße Tautologien zu äußern. Aber die Behauptung, etwas existiere als solches nicht wirklich, sondern sei nur eine Illusion, die von etwas ganz anderem ausgelöst werde, das ihm also in der Wirklichkeit zugrunde liege, ist nur unter eng umrissenen Bedingungen sinnvoll – etwa bei ›optischen Täuschungen‹, Halluzinationen, Träumen oder Fehlerinnerungen. In diesen Fällen gelingt eine überzeugende Reduktion der erlebten Erscheinungen auf ihre wirklichen Ursachen. Der Reduktionismus besteht dem gegenüber darin, derartige Behauptungen losgelöst von einer gelungenen Reduktion in die Welt zu setzen: – was immer relativ einfach als unbegründet zu erweisen ist: Etwa einem Ökonomismus, der behauptet, es gibt gar keine politischen Prozesse, was uns als ein politischer Prozess erscheint, ist immer nur der illusionäre ›Ausdruck‹ der wirklichen ökonomischen Prozesse und hat gar keine eigene Wirklichkeit, wird immer argumentativ zwingend die eigenständige Materialität politischer Prozesse entgegengehalten werden können. Der reduktionistische Fehlschluss, der einen realen Gegenstand durch einen anderen als den ›eigentlich wirklichen‹ ersetzen will, ist überall dort logisch unhaltbar, wo nicht zunächst die Scheinhaftigkeit des behaupteten Reduktionsobjekts und die Wirklichkeit des eigentlichen Objektes bewiesen worden ist, das an seine Stelle treten soll.

Biologismus begreift historische Prozesse mit biologischen Kategorien – und zwar heute nicht mehr (wie noch der alte Linné), um auf diesem Umwege die nemesis divina, die rächende göttliche Vorsehung, in historischen Prozessen aufzuweisen, sondern in ihr die gewöhnliche biologische Kausalität am Werk zu sehen – und in ihren reflektierten Formen, um zu bestreiten, dass sich die Geschichte der Menschen kategorial von der anderer Lebewesen unterscheidet.

»Evolution«, »Rasse«, »Selektion«, »Gen« sind derartige zentrale Kategorien der modernen Biologie seit Darwin und Mendel, die in biologistischen Argumentationen vor allem dazu benutzt werden, die Unausweichlichkeit und Unveränderlichkeit zentraler Herrschaftsverhältnisse zu ›begründen‹, wie sie in modernen Gesellschaften bestehen. Unterschiedliche Malthusianismen, Sozialdarwinismen oder ›Soziobiologismen‹ haben seit dem 19. Jahrhunderts umfassende biologistische Weltbilder propagiert, die dann vor allem unter säkular orientierten Intellektuellen für erhebliche Verwirrung gesorgt haben1 und in vielen ›westlichen‹ Ländern in reaktionäre Massenideologien eingegangen sind.

In diesen Entwicklungen ist dann auch endlich die eigentlich zentrale Funktion des modernen Biologismus hervorgetreten, der seine Bekämpfung so wichtig werden lässt. Denn der springende Punkt dieser Weltbilder war immer wieder die ›Biologisierung‹ der wichtigsten Herrschaftsverhältnisse: Als ›Rassismus‹ affirmierten biologistische Ideologien offensichtlich diejenigen Herrschaftsverhältnisse, die mit der kolonialen und neokolonialen Ausbeutung verbunden waren (einschließlich der Diskriminierung der ›Immigranten‹ in den ›Mutterländern‹ dieser imperialen Abhängigkeitsverhältnisse);2 und als ›Sexismus‹ die herrschaftlich geprägten Geschlechterverhältnisse auch in den modernen Gesellschaften.3

Die Abwehr des Biologismus geht immer wiederum mit einem anderen, entgegengesetzten Kategorienfehler einher, für den uns ein eingängiger Begriff fehlt – die sich dafür anbietenden Begriffe des ›Humanismus‹ oder auch des ›Histori(zi)smus‹ sind auch anderweitig belegt:4 Dem Kategorienfehler, der darin besteht, keinerlei biologische Kategorien auf das Leben der Angehörigen der Spezies homo sapiens sapiens für anwendbar zu halten. Das bedeutet in der Konsequenz, die Berechtigung einer Humanbiologie zu leugnen und etwa die Anwendbarkeit einer naturwissenschaftlich vorgehenden Medizin auf Menschen zu bestreiten. Ich möchte vorschlagen, hierfür den Begriff des ›Humanexzeptionalismus‹ zu prägen – weil hier ›der Mensch‹ vollständig aus ›der Natur‹ herausgenommen gedacht wird und als ein Ausnahmewesen bestimmt wird, dass nicht zu den biologisch erforschbaren Lebewesen gehört. Die Analogie zu bestimmten Lesarten der Genesis-Geschichte in der Bibel, in der der Mensch über die ›übrige Schöpfung‹ erhoben und in Gegensatz zu »den Tieren« gesetzt wird,5 ist hier augenfällig.

Den Biologismus in der nötigen Klarheit und Schärfe zu kritisieren, ohne in einen Humanexzeptionalismus zu verfallen, ist aber offensichtlich nicht ganz so einfach und einsichtig. Zwar ist es logisch ziemlich einfach, eine Position zu beschreiben, die zwar bestimmte biologische bzw. biosphärische Prozesse als historisch signifikant erkennt – wie etwa die große Pest im Europa des 14. Jahrhunderts oder die Wetterkatastrophen und Missernten, die dem Jahr 1848 unmittelbar vorausgegangen sind – und auch humanbiologische Sachverhalte wie die geschlechtliche Fortpflanzung und die Empathie in Kleingruppen als Erklärungsdimensionen historischer Prozesse anerkennt, die aber die große Fluktuation des 14. Jahrhunderts6 oder die europäische Revolution von 1848 primär aus der strukturellen Krise der frühen europäischen Feudalität bzw. aus der Krise der konterrevolutionären Konstellation erklären, wie sie sich auf dem Wiener Kongress von 1815 durchgesetzt hatte7 – also aus eigenständig historischen Faktoren. Die heutige Kritik des Biologismus steht daher, wie jede Reduktionismuskritik, um überzeugend zu wirken, nicht nur vor der Aufgabe, die logische Unhaltbarkeit derartiger Reduktionen als solche aufzuweisen. Sie muss vielmehr zeigen können, dass primär biologisch argumentierende Ansätze im Hinblick auf historische Prozesse und wichtige politische Entscheidungen sowohl in explikativer als auch in normativer Hinsich ganz grundsätzlich unzureichend sind – und sie wird zumindest nachvollziehbar machen müssen, warum – trotz des zugrundeliegenden logischen Fehlers – biologistische Argumentationen heute noch vorgetragen und geglaubt werden.

Das wird überall dort überzeugend gelingen, wo es gelingt, pseudobiologische Begriffsbildungen wie die der ›Menschenrassen‹ oder der ›Evolution der Produktionstechniken‹ als herrschaftsaffirmative und antiemanzipatorische Ideologien zu entlarven, zugleich aber auch die Bedeutung von biosphärischen und synökologischen Voraussetzungen und der Prozesse des ökologischen Stoffwechsels zwischen den politischen Ökologien der Menschen und der irdischen Biosphäre konkreter zu begreifen, sowie nicht zuletzt eigenständige historische Erklärungen für diejenigen Prozesse zu finden, auf die sich derartige biologistische Konzepte und Erklärungsmuster beziehen: also beispielsweise für die typischen Ängste und Projektionen der von sozialen Exklusionsmechanismen betroffenen Unterschichten oder der in ihren in der fordistischen Vergangenheit genährten Aufstiegshoffnungen erschütterten Mittelschichten, sowie für den Zusammenhang von Kontinuität und Innovation in der Geschichte der Technologieentwicklung.

Um die Sache in einer positiven Formulierung zusammenzufassen: Der Biologismus in allen seinen Formen verkennt die Realität der politischen Ökologie der Menschheit (vgl. Lipietz 2000, Paust-Lassen/ Wolf 2002), in der biosphärische und humanbiologische Bedingungen sich nicht nach einem evolutionär vorgegebenen Grundmuster verbinden – wie dies bei den Bibern oder bei den Ameisen der Fall ist -, sondern durch historische Taten und Strukturen allererst zu einer besonderen historischen Ökologie, zu einer historisch besonderen Lebensweise von menschlichen Lebewesen unter den von ihnen vorgefundenen und umgestalteten biosphärischen8 und synökologischen9 Bedingungen, ausgestaltet worden sind. Sein nicht weniger falsches Gegenteil, der Humanexzeptionalismus, übergeht den elementaren Umstand, dass bei allen Ausweitungen, welche menschliche Gestaltungsmöglichkeiten historisch immer wieder erfahren haben, alle politischen Ökologien der Menschen in ihren Ausgestaltungsprozessen immer wieder von konkret gegebenen biosphärischen und synökologischen Bedingungen – und in Zukunft vielleicht auch von den jeweils gegebenen humanbiologischen Voraussetzungen – ausgehen. Die politischen Ökologien der Menschheit prägen zwar eine menschliche Geschichte aus, die keine bloße Fortsetzung der Evolution und auch kein bloßer Reflex biosphärischer oder synökologischer Fluktuationen ist. Sie treten dabei aber nicht aus der Natur heraus, sondern gestalten sich in ihr – auch wenn sie gegenwärtig (im beginnenden ›Anthropozän‹ – vgl. Crutzen/Stoermer 2000 u. Crutzen 2002) dabei sind, als solche zu einer erdgeschichtlich wirksamen Kraft zu werden.

Sich wirklich und konsequent für die historischen – sozialen, ökonomischen, kulturellen und politischen – Determinanten der gegebenen Lage und ihre Veränderbarkeit zu interessieren, in der zu handeln ist, setzt daher zwar voraus, den Biologismus hinter sich zu lassen – aber nicht, darüber den Blick auf die natürlichen Voraussetzungen menschlichen Handelns gerade in der gegenwärtigen erdgeschichtlichen Situation zu vergessen. Gerade eine emanzipatorische Praxis kann und darf nicht überspringen, dass es in jeder menschlichen Befreiung eben auch um menschliche Lebewesen geht, die ihre Lage und auch sich selbst zwar immer wieder neu ausgestalten können, unter historisch konstituierten ökonomischen, politischen, sozialen und kulturellen Bedingungen als Strukturen und Mechanismen, die aber dennoch immer auch Determinanten und Bedingungen unterliegen, über die uns spezifisch doch nur die Biologie kompetent aufklären kann. Dieses Interesse an einer Aufklärung anhand der wissenschaftlichen Ergebnisse der Biologie bedarf allerdings immer auch der Ergänzung (und damit auch der Korrektur) durch das informierte Interesse an den sehr viel schwieriger zu rezipierenden Ergebnissen der Erforschung von Geschichte und Gesellschaft. Gerade in einer entpolitisierten Öffentlichkeit, welche die Mühen der gesellschaftswissenschaftlichen Debatte scheut, oder unter naturwissenschaftlich geprägten Intellektuellen, auf die der unaufhörliche gesellschaftswissenschaftliche Grundlagenstreit abschreckend wirkt, ergibt sich daraus die Neigung zu einer Flucht in die besseren Gewissheiten der Biologie, für die damit zumindest der pragmatische Biologismus zu einer immer wieder attraktiven Versuchung wird. Denn angesichts der historischen Krisenkonstellation, in die sich die menschliche Gattung zu Beginn dieses ›Anthropozäns‹ selbst gebracht hat, kann es auch die allerfröhlichste Wissenschaft moralisch-politisch einfach nicht mehr leisten, ganz unbefangen zu ignorieren, was wir als Menschen einander historisch antun – und in welchen Mechanismen wir uns dabei immer wieder verfangen.

LITERATUR

 

FUSSNOTEN:

1. Exemplarisch sind hierfür die Anhänger Ernst Haeckels, die sich im Deutschen Monistenbund organisiert hatten (vgl. Groschopp 1997)

2. Hierzu gibt es seit Fanon 1969 eine breite Debatte vgl. aus der jüngeren Diskussion Memmi 1992 u. Banerji 2000.

3. In Voß 2009 und 2011 steht ein Kompendium der Kritik an den in jüngeren Zeit hierzu vertretenen biologistischen Denkfiguren zur Verfügung. Zur wirklichen Biologie von Geschlechtlichkeit vgl. Ebeling 2006.

4. Der ›Humanismus‹ wird auch als Begriff für eine säkulare Lebensauffassung gebraucht, die sich jedenfalls nicht auf einen derartigen ›theoretischen Humanismus‹ bzw. ›Anthropozentrismus‹ einengen lässt (vgl. Wolf 2009); der ›Histori(zi)smus‹ wird sowohl kulturgeschichtlich als auch in der Epistemologie der Geschichts- und Gesellschaftswissenschaften verwendet (vgl. etwa Popper 1957).

5. Zur Interpretation vgl. etwa Leo Šešerko (2008).

6. Vgl. die in Deutschland noch nicht rezipierte ökologische Krisenrekonstruktion durch Guy Bois 2000.

7. Vgl. die immer noch besonders aufschlussreiche Darstellung durch Eric Hobsbawm (1962).

8. Hierher gehören die in der Historiographie bereits klassischerweise angeführten, geographisch variierenden klimatischen Bedingungen, die erdgeschichtlichen Klimaschwankungen (Eis- und Warmzeiten) oder die evolutionäre Entwicklung der Biodiversität, aber auch der etwa durchaus veränderliche Eintrag extraterrestrischer Strahlung (bekannt anhand der Problematik des Ozonlochs) und Stoffe (bis hin zu Meteoriteneinschlägen), deren systematische Berücksichtigung durch die Geschichtsschreibung inzwischen begonnen hat – ohne dadurch notwendigerweise in neue Reduktionismen zu verfallen.

9. Hierher gehören etwa die Domestikation anderer Lebewesen, die zweifellos historische Kulturentwicklungen differenzierend geprägt haben (vgl. die historisch-ökologischen Untersuchungen der Kasseler Arbeitsgruppe »Studien zu Subsistenz, Familie, Politik«: Sperling/Steinhauer-Tjaden 2004), die komplexen Symbiosen mit anderen Organismen, in denen alle menschlichen Individuum leben (mit der Nebendimension der Anfälligkeit für Infektionen) oder auch die faktischen, mehr oder minder versteckten Biozönosen, in denen die politischen Ökologien der Menschen auch außerhalb von Domestikationen und Symbiosen stehen (etwa in Gestalt der Rolle von Ameisen in der Hygiene menschlicher Siedlungen) (vgl. etwa Diamond 2005).

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