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Wunsch und Wirklichkeit

ZAG

Die Bundestagswahl ist vorbei und wir haben uns darüber gefreut, dass die FDP nicht mehr in den Bundestag gekommen ist. Und die AfD noch nicht. Wir haben uns gewünscht, dass die Marktradikalen auf dem Markt der Meinungen keine Nachfrage mehr erzielen. Das dürfte die Einnahmen der FDP stark reduzieren. Ihre Klientel kauft ja konsequent nur dort ein, wo es die besten Gegenleistungen gibt. Und siehe da: Die Kundschaft ist schon abgewandert. Die Eigentümer*innen von BMW kaufen jetzt bei der CDU die Verhinderung einer etwas strengeren EU-Abgasrichtlinie. Das flutscht fast so gut wie damals mit der Hotelsteuer. Über unsere Freude haben wir die harte Wirklichkeit aus dem Auge verloren: Nämlich die, dass es fast nur noch neoliberale Parteien gibt. Die Hartz-SPD mit dem Sparkassendirektor an der Spitze traut sich jedenfalls nicht, mit der Anti-Hartz-SPD (AKA DIE LINKE) und den neoliberalen Grünen eine Koalition zu versuchen. Die SPD hat ein paar Posten bekommen und eine konservative, neo-liberale und rassistische Politik mitgetragen, wie wir das von ihr gewohnt sind.

Eine Idee der Europäischen Union ist ja die Freizügigkeit. Aber die Freizügigkeit von Bürger*innen wird zunehmend reduziert auf die Freizügigkeit von Arbeitskräften. Deshalb taucht im Koalitionsvertrag auch das ideologische Bild der Armutswanderung wieder auf. Das ist ein echter Klassiker spätestens seit der Kohl-Ära. Damals wurde es noch auf politisch Verfolgte angewandt, die aufgrund des Asylrechts in Deutschland aufgenommen werden mussten. Theoretisch. Wie die Wirklichkeit aussah wurde am Fall von Kemal Altun deutlich (S. 10). Aber im Koalitionsvertrag wird der Begriff auf politisch verfolgte EU-Bürgerinnen aus Rumänien und Bulgarien angewendet und so Rassismus gegen Sinti und Roma geschürt. (S. 9)

Auch die Gewerkschaft VERDI in Hamburg wünscht sich lieber freizügige legalisierte Arbeitskräfte als Mitglieder. Jedenfalls hat sich das Ressort »Organisationspolitik« dagegen ausgesprochen, Flüchtlinge aus der Gruppe »Lampedusa in Hamburg« aufzunehmen. Mit der Begründung, dass diese keine Arbeitserlaubnis hätten. Damit macht sich VERDI zum Gehilfen einer rassistischen Politik und ignoriert die Wirklichkeit, dass diese Menschen sehr wohl arbeiten und arbeiten müssen, um menschenwürdig leben zu können. Das ist schon ein bisschen schade, weil gerade VERDI immer wieder Initiativen für die Unterstützung illegalisierter Arbeitskräfte entwickelt hat. Deshalb fordert ein offener Brief nun Verdi auf, seine Satzung der Wirklichkeit anzupassen.

Ein anderer offener Brief erreichte die Leitung der HU. Es ist ein Bekenner*innenschreiben. Die »Gruppe Wissen im Widerstand« bekennt sich dazu, einen Nazi aus der HU entführt zu haben. Adolf Butenandt ist seit 1995 tot und daher wird es ihn vermutlich nicht stören. In Wirklichkeit wurde auch nur sein Bild aus der Ahnengalerie der HU entfernt. Mit gutem Grund. Er war ordentliches Mitglied der NSDAP und hat mit namhaften »Rassenhygieniker*innen« und anderen rassistischen Verbrecher*innen wie Mengele zusammengearbeitet. Nach dem Krieg fand er, dass Wissenschaft »neutrales und objektives«, also von politischen Ordnungen unabhängiges Wissen produziere. Ja, nee ist klar. »Ich bin es nicht, Adolf Hitler ist es gewesen«. Das ist natürlich ein Ahnherr auf den die Humboldt Universität so stolz ist, dass sie keinen Grund sieht, ihn aus der Ahnengalerie zu entfernen. Die Gruppe hat sein Bild dankenswerterweise in Eigeninitiative entfernt und stattdessen Napuli Paul Langa geehrt. Sie ist eine Aktivistin der Refugee Strike Bewegung, die seit 2012 für die Abschaffung der Lager- und Residenzpflicht, den Stopp aller Abschiebungen, für ein dauerhaftes Bleiberecht, das Recht auf Arbeit, Bildung, selbstbestimmtes Wohnen, und Bewegungsfreiheit kämpft. Und mit dieser Ehrung kommen für uns Wunsch und Wirklichkeit mal in Deckung.

Zumindest vorübergehend.

Denn es steht zu fürchten, dass die HU den Nazi wieder aufhängt.

Eure ZAG

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