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War da was?

Postkoloniale Spurensuche

Unser ZAG-Schwerpunkt kommt gerade passend zu wichtigen Ereignissen in der Auseinandersetzung über die koloniale Vergangenheit Deutschlands. Die Mitstreiter_innen des Forschungs- und Bildungsprojekts freiburg-postkolonial.de  feiern vom 16. September bis 10. November zehnjähriges Jubiläum und gehören damit zu den Pionier_innen der vielen lokal orientierten Initiativen, die sich in ihren Städten auf postkoloniale Spurensuche begeben. Nach den langen Jahren des zivilgesellschaftlichen Engagements kann mensch in Freiburg auf ein Potpourri an realisierten Projekten und Formaten zur Aufarbeitung der deutschen Kolonialgeschichte im urbanen Raum zurückgreifen. Anhand von Stadtführungen mit Audioguides der als Informationspool und Wissensarchiv dienenden Website, postkolonialen Stadtplänen, Vorträgen und Ausstellungen werden die Spuren des Kolonialismus in der baden-württembergischen Stadt hör- und sichtbar gemacht. Wir gratulieren den Vorreiter_innen der postkolonialen Bewegung(en) in Deutschland, die sich 2005 zu freiburg-postkolonial.de zusammenschlossen und die mit ihren Ideen prägend für viele weitere Menschen waren und sind, die am Beispiel der Hamburger, Dresdner oder Münchner Initiativen in dieser ZAG-Ausgabe zu Worte kommen.

War da was? Ein Wort namens Genozid?

Es gibt im Jahr 2015 noch mehr – allerdings mit Vorbehalt – zu feiern, und da kommt eine weitere städtische Initiative ins Spiel, die seit 2007 zivilgesellschaftlich aktiv ist, um die Spuren des Kolonialismus im öffentlichen Raum und in der Stadtgeschichtsschreibung kritisch zu kommentieren und für die breite Bevölkerung sichtbar zu machen. Berlin Postkolonial e.V.
hat nun neben der lokalen Arbeit in der Hauptstadt öffentlichkeitswirksam die grenzüberschreitende Kampagne »Völkermord verjährt nicht!« gestartet und gemeinsam mit mehr als 150 Erstunterzeichner_innen aus Kultur und Wissenschaft, Politik, Kirche, und Black Community in Deutschland sowie zahlreichen NGOs und Netzwerken den Appell »Völkermord ist Völkermord!« bis ins Bundespräsidialamt getragen. Am 6. Juli überreichten Aktivist_innen von Berlin Postkolonial e. V. den an den Bundespräsidenten, den Bundestag und die Bundesregierung gerichteten Aufruf gemeinsam mit einer Delegation von Ovaherero und Nama aus Namibia, den Nachkommen der Opfer des deutschen Genozids (1904-1908) in der damaligen Kolonie Deutsch-Südwestafrika. Bezeichnend pietätlos das Verhalten der Empfänger des Appells beim Bundespräsidialamt: Die hochrangigen namibischen Vertreter der Opfergruppen wurden gar nicht erst offiziell empfangen.

Dennoch überstürzten sich danach die Meldungen über die spätestens seit dem 120. Jahrestag der Berliner Afrika-Konferenz 2004 geführte Debatte um die offizielle Anerkennung der Kriegsverbrechen, Vertreibungen und massenhaften Vernichtung durch die deutschen Kolonialherren während der Kriegshandlungen und in den danach errichteten Konzentrationslagern als Genozid. So schrieb einen Tag vor dem 9. Juli, dem 100. Jahrestag der Kapitulation der Deutschen gegenüber den südafrikanischen Truppen in Deutsch-Südwestafrika, der Bundestagspräsident Norbert Lammert in »Die Zeit« von einem menschenverachtenden »Rassekrieg« und benutzte erstmalig den Terminus Genozid. Einen Tag später folgte ihm die Bundesregierung und begann über Entschädigungszahlungen mit dem namibischen Staat zu verhandeln.

Genozid – und weiter?

Die offizielle Formulierung der Bundesregierung – »Der Vernichtungskrieg in Namibia von 1904 bis 1908 war ein Kriegsverbrechen und Völkermord« – scheint hierbei völlig fehlgeleitet, denn der heutige Staat Namibia existiert erst seit 1990, und die Nachfahren der vom ersten Völkermord des 20. Jahrhunderts betroffenen Ovaherero, Nama, San und Damara werden einmal mehr gar nicht adressiert.

Die Palette an offenen Forderungen des zivilgesellschaftlichen Bündnisses ist breit. Noch lange nicht sind alle für rassistische Forschungen geraubten menschlichen Überreste in ihre Ursprungsländer repatriiert worden, und noch immer fehlt eine offizielle Entschuldigung der Bundesregierung bei den bis heute von den schwerwiegenden Auswirkungen des Genozids und den Enteignungen während der deutschen Herrschaft betroffenen Communities. Da die namibischen Aktivisten weiterhin von den laufenden Entschädigungsverhandlungen zwischen der deutschen und der namibischen Regierung ausgeschlossen werden, wurde die Kampagne und Unterschriftensammlung bis zum 2. Oktober, dem 111. Jahrestag des Genozidbefehls des deutschen Generals Lothar von Trotha, verlängert. Während seiner dreitägigen Reise Anfang Oktober nach Namibia nahm Lammert zwar an einer Totengedenkfeier in Otjinene teil, dort wo der Vernichtungsbefehl erlassen wurde, sprach aber sonst lediglich als Privatperson von Völkermord.

Anfang Juli haben zwei Oppositionsparteien Anträge über die »Versöhnung mit Namibia« (Die Linke, Drucksache 18/5407) und die »historische Verantwortung« Deutschlands (Bündnis 90/Die Grünen, Drucksache 18/5385) in den Bundestag eingebracht, die am 14. Oktober in den Bundestagsausschüssen für Entwicklungszusammenarbeit und Menschenrechte verhandelt werden. Dabei nannten die Linken einen entscheidenden Zusammenhang zwischen Kolonialismus und Gegenwart, der Antrieb des aktuellen ZAG-Schwerpunkts einer postkolonialen Spurenlese ist: »Der Deutsche Bundestag ist sich bewusst, dass die Auseinandersetzung mit diesem Völkermord und seinen Folgen auch unmittelbare Bedeutung für die Gegenwart hat. Deshalb muss sich Deutschland seiner kolonialen Vergangenheit stellen. Eine selbstkritische Reflexion der kolonialen Prägungen der deutschen Gesellschaft ist auch Voraussetzung, um gegen den insbesondere gegen schwarze Menschen gerichteten Rassismus vorzugehen.«

Die ZAG blickt mit diesem Schwerpunkt auf die ehemals kolonisierenden Metropolen und deren städtische Gesellschaften in Deutschland, die ebenfalls ein unterstützender Teil des Kolonialismus waren. Ja, da war was, auch hier vor Ort, in jeder größeren Stadt lassen sich Spuren der deutschen Kolonialgeschichte finden. Nachdem die Erinnerung an den Kolonialismus lange verdrängt wurde, haben sich die bereits genannten und viele weitere postkoloniale Initiativen zivilgesellschaftlich das Ziel gesetzt, diesen bis heute wichtigen Teil der Geschichte regional aufzuarbeiten, die historischen Wurzeln des gesellschaftlichen Rassismus aufzudecken und postkoloniale und rassistische Denk- und Gesellschaftsstrukturen der Gegenwart zu offenbaren. Die ZAG begibt sich mit auf den Weg einer postkolonialen Spurenlese...

Eure ZAG

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