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Frontex in Westafrika

Wie die EU Migrationskontrolle, Freizügigkeitsbeschränkungen und Militarisierung durchsetzt

Christian Jakob

Die europäische Grenzschutzagentur Frontex war zehn Jahre alt, als die EU sie im Dezember 2016 neu konstituierte. Seither lautet  ihr offizieller Name Europäische Agentur für die Grenz- und Küstenwache (EBCG, European Border and Coast Guard) – der Name Frontex wurde parallel beibehalten. Kurz darauf erklärte ihr Direktor Fabrice Leggeri, wie er sich die künftige Politik der neu benamten Risenbehörde vorstellt: „Klar ist: Die Zusammenarbeit mit den Herkunfts- und Transitländern ist ein Schlüsselelement erfolgreichen Migrationsmanagements“, schrieb Leggeri im April 2017. Vom Informationsaustausch bis zur Abschiebungs-Zusammenarbeit habe Frontex deshalb „seine Reichweite jenseits von Europa erweitert.“ Die Verlagerung des europäischen Grenzschutzes an Orte weit jenseits des Schengen-Raums, den irregulären MigrantInnen begegnen, noch bevor sie einreisen – das ist das Zukunftsprojekt von Frontex.

Bei der Zusammenarbeit mit den sogenannten Drittstaaten – also solchen, die nicht zur EU gehören – will die Agentur ihr neues Mandat „voll ausschöpfen“ und sich „strukturiert und konsistent auf dem Gebiet der Außenpolitik“ engagieren – so steht es in einem internen Planungsdokument vom Dezember 2015. GrenzschützerInnen als DiplomatInnen. Ein Kern  des neuen Mandats: die „operationelle Zusammenarbeit mit vorrangigen Drittländern“. In solche Drittstaaten will Frontex VerbindungsbeamtInnen schicken und „mögliche gemeinsame Operationen auf dem Territorium von Drittstaaten“ vorbereiten.

Tatsächlich soll so nur erweitert werden, was Frontex schon seit langer Zeit betreibt. Vor allem in zwei Staaten Afrikas hat die Agentur es geschafft, ihre Vorstellungen von „erfolgreichem Migrationsmanagement“ durchzusetzen.

Einer davon ist Senegal. Ein gutes Dutzend spanischer GrenzschützerInnen ist seit über zehn Jahren in dem westafrikanischen Land stationiert. Es ist die älteste Mission der EU-Grenzschutzagentur Frontex, benannt nach der griechischen Göttin Hera. Und wenn man Frontex-Maßstäbe anlegt, die mit Abstand erfolgreichste. 2006 gelangten 31.600 Menschen aus Westafrika auf die Kanarischen Inseln. „Eine große Lawine war das“, sagt der örtliche Guardia Civil-Kommandant Raffael Carlo Abeger. Spanien schloss mit den Regierungen von Mauretanien und Senegal Verträge. Die SpanierInnen durften kommen und im Senegal Migranten verfolgen, fast so, als sei dies hier ihr eigenes Land. Ab 2009 war die sogenannte Atlantikroute zu. Fast kein/e AfrikanerIn kam mehr von Senegal aus zu den Kanaren durch.

Am Tor des Marinestützpunkts von Dakar stehen Soldaten, die müde die Hand zum Gruß heben, auf der linken Seite, in einem sandgelben Gebäude, ist das Lagezentrum, der Arbeitsplatz der spanischen Küstenwache. Die Straße schlängelt sich an den Kaimauern entlang, an denen graue Marineschiffe liegen wie schlafende Tiere. „Alles Schrott“, sagt der Offizier der Guardia Civil, Jose Luis Bodi. „Die funktionieren fast alle nicht mehr.“ Der Senegal hätte nur eine Hand voll einsatzfähiger Schiffe. „Und die haben natürlich die Europäer bezahlt.“

Am Ende der Kaistraße liegen die beiden Schiffe der Guardia Civil, Typ Rodman 101, 31 Meter lang, 1.500 PS, Nachtsichtgeräte, Infrarotkameras, moderne Radarsensoren, je zehn Mann Besatzung, Höchstgeschwindigkeit 64 Stundenkilometer. Jede Nacht fahren sie hinaus, unterstützt von einem Helikopter, den die SpanierInnen auf dem Flughafen von Dakar stationiert haben.

„Mit den Senegalesen beobachten wir die Boote, die in Richtung Kanaren fahren. Wir halten sie auf und bringen sie zurück“, sagt Bodi. Er geht auf die Brücke, zeigt die Monitore der Wärmebildkameras. „Die Boote der Illegalen sieht man nicht auf dem Radar.“

Offiziell unterstützen die SpanierInnen die SenegalesInnen nur. Tatsächlich „entscheiden wir, wohin wir fahren und welche Schiffe kontrolliert werden. Die Senegalesen führen das dann aus“, sagt Bodi. Die Arbeit sei „präventiv“, sagt er. „Die sollen wissen, dass wir hier sind, und gar nicht erst losfahren.“

Spanien war das erste Land der EU, in das im letzten Jahrzehnt in größerer Zahl irreguläre MigrantInnen aus Afrika kamen. Und es war das erste, das auf die Idee kam, den Transitstaaten mehr Entwicklungshilfe zu geben, um diese zu blockieren. Mit seinem „Plan África“ ab 2004 vervierfachte Spanien seine Hilfsgelder in Westafrika. „Wir glauben, dass es sinnvoll ist, die Aufstockung der Entwicklungshilfe an die Ausarbeitung von Migrationsabkommen zu koppeln“, sagte der damalige Justizminister Juan Fernando López Aguilar.

Eine vergleichbare Kooperation, bei dem ein Nicht-EU-Staat europäischen Grenzpolizisten in diesem Maß faktische Hoheitsrechte einräumt, gibt es nirgendwo sonst. „Spanien hat diese Grenzkontrollen und Rücknahmen von Ländern in Westafrika verlangt und bekommen“, sagt Louis Vimont, einst Generalsekretär des Europäischen Auswärtigen Dienstes EEAS. „Aber es ist dabei sehr geräuschlos vorgegangen, keine öffentlichen Erklärungen, das war das Geheimnis.“ Deswegen sei das Land damals weiter gekommen als die EU heute bei ihren Verhandlungen mit anderen afrikanischen Staaten.

Neun Monate im Jahr sind die Spanier allein in Dakar. Von August bis Oktober – der Zeit, in der mit den meisten Überfahrten gerechnet wird – schickt Frontex Schiffe und Flugzeuge aus anderen EU-Staaten zur Unterstützung. Die Präsenz von Bodi und seinen Leuten habe dazu geführt, dass SenegalesInnen, die nach Europa wollen, zuletzt meist den lebensgefährlichen Weg durch die Sahara, über Libyen und das Mittelmeer gewählt haben. 5.700 SenegalesInnen sind auf diese Weise von Januar bis Oktober in Italien angekommen. „Leben retten, darum geht es hier vor allem“, behauptet Bodis Chef, Carballo Abeger in Dakar. Die Überwachung fange nicht erst auf See an, sondern schon an Land. Dort suche die Polizei nach Schleppern und Menschen, die die Überfahrt planen. „Die arbeiten mit dem spanischen Geheimdienst zusammen.“

Ihr Glück sei, dass Senegal und Mauretanien „sehr stabil sind, mit den Regierungen kann man gut zusammenarbeiten“, sagt Abegar. Dakar, die Metropole Westafrikas, vier Flugstunden südlich des Mittelmeers, sei „natürlich eine Grenze Europas“, sagt Abegar. „Wenn diese Route wieder aufgeht, kämen Tausende erneut nach Europa.“  Bei einem Besuch im Dezember 2017 zeigt Bodi die Bilder, die ihm seine KollegInnen vor Mauretanien geschickt haben: zwei Holzboote, völlig überfüllt mit über 100 AfrikanerInnen, gestartet wohl in Gambia. Insgesamt fünf Boote mit etwa 200 Menschen haben es seit Oktober 2017 bis in die spanischen Gewässer geschafft. Fünf Boote in acht Wochen, nach sieben Jahren, in denen es den Spaniern gelungen war, die Route fast komplett dicht zu halten. „Das hat natürlich mit der Situation in Libyen und Niger zu tun. Die Route dort wird jetzt besser kontrolliert, also versuchen wieder mehr Menschen, hier über das Meer zu kommen“, sagt Abegar. Für ihn ist klar, dass er hier bald mehr zu tun bekommen wird. „Wir bleiben hier.“

Die spanischen Grenzsoldaten haben auch deshalb womöglich bald mehr zu tun, weil ihre KollegInnen etwa 2.000 Kilometer weiter östlich ganze Arbeit geleistet haben. In Niger, dem Haupt-Transitland in der Sahara gibt es zwar keine Frontex-Mission wie im Senegal. Seit 2017 aber hat die Agentur den ersten „Verbindungsbeamten“ in Afrika dorthin entsandt. Und gemeinsam mit Dutzenden weiterer entsandter europäischer PolizistInnen, SoldatInnen, BeamtInnen und ExpertInnen arbeitet der daran, dass der Weg für Flüchtende durch die Sahara so unpassierbar bleibt wie jener im Ostatlantik.

Zu besichtigen sind die Folgen ihrer Arbeit in einem Kasernenhof auf dem Armeestützpunkt von Agadez am Südrand der Sahara. In langen Reihen stehen die weißen Toyotas. Die Hände auf dem Rücken schreitet der Kommandant Issak Abdou  hindurch, sein Adjudant dicht hinter ihm, die Kalaschnikow im Arm. „Der da: 7 Millionen Francs“, sagt Abdou und nickt in Richtung eines Pick-ups. „Der da: 10 Millionen.“

15.000 Euro sind das umgerechnet, doch zu verkaufen ist der Wagen nicht. Abdous Kasernenhof ist eine Asservatenkammer. Noch vor Kurzem war jedes dieser Autos unterwegs zwischen Agadez in Niger und Libyen. NigerianerInnen, SenegalesInnen, KamerunerInnen oder GambierInnen auf der Ladefläche, 1.500 Kilometer, drei Tage Fahrt, wenn alles glatt lief. Jetzt verschwinden die auf den Fahrzeugen verbliebenen Besitztümer der einstigen Passagiere unter dem Wüstenstaub wie Relikte einer vergangenen Zivilisation: alte Schuhe, leere Tablettenpackungen, Wasserkanister mit Bärchenbildern für die Kinder. Und ein Koran. Ein Koran? Abdou klopft ihn ab und nimmt ihn an sich. Das Wort Gottes darf nicht im Schmutz liegen.

Vor drei Jahren wurde Abdou Kommandant. Bald darauf beschloss das Parlament von Niger ein Gesetz mit der Nummer 2015-36 gegen Menschenschmuggel. Seitdem muss Issak Abdou die FahrerInnen, die Menschen durch die Wüste bringen, verhaften lassen. Ihre Autos werden beschlagnahmt, 107 sind es mittlerweile. Fast genauso viele Fahrer sitzen in den Gefängnissen der Wüstenstädte Agadez und Bilma. Die meisten warten auf ihren Prozess. Bis zu 30 Jahre Gefängnis drohen ihnen. „Früher war legal, was sie getan haben“, sagt Abdou. „Jetzt gilt es als Menschenhandel. Ist schlimmer, als mit Drogen oder Waffen zu dealen.“

Die beschlagnahmten Pick-ups sind Zeugnisse der Strapazen, die die Menschen auf sich genommen haben, um näher an Europa heranzukommen. Die Ladefläche des Toyota Hillux Single Cab, Baureihe 7 – das Modell, das fast alle Schlepper hier benutzten – ist 231 Zentimeter lang und 152 Zentimeter breit, etwas größer als ein Bett. Je 25 Menschen sind darin durch die Wüste gefahren. Abdou hebt einen Knüppel auf, der im Sand liegt. Er steckt ihn zwischen seine Beine, geht etwas in die Knie und umklammert das Holz mit beiden Händen. „So haben die sich festgehalten. Sonst hält das kein Mensch aus“, sagt er.

Je näher die MigrantInnen auf dem Weg nach Europa ihrem Ziel kommen, desto mafiöser, teurer und gefährlicher ist die Reise. Zu Beginn können sie für wenig Geld Busse besteigen, am Ende zahlen sie ein Vermögen für eine lebensgefährliche Bootsfahrt. Agadez ist eine Zäsur in diesem Kontinuum. Bis zu diesem Ort ist das Recht auf ihrer Seite. Jenseits davon gibt es nichts mehr, auf das sie sich verlassen könnten.

Tourayet ist ein 100-Seelen-Dorf, einige Fahrstunden östlich von Agadez. Auf dem Weg wechseln sich Geröll, Sand und Buschland ab. Am einzigen Brunnen tränkt eine Gruppe Touareg ihre Kamele. Hin und wieder schälen sich die Konturen von Lkws aus dem staubigen Horizont. Sie schwanken im Schritttempo über die Piste, aberwitzig hoch beladen mit Hunderten Bündeln, billig erworbener Importfracht aus Libyen. Am Ortseingang von Tourayet hängt ein Seil schlaff über der Straße, in ein paar Hütten bieten HändlerInnen Brennholz und gegrillte Ziege an. Tourayet ist einer der vielen Kontrollposten auf der Route durch die Sahara. Auf dieser gibt es hin und wieder Brunnen, kleine Siedlungen und etwas Verkehr. Unfälle bleiben so nicht unbemerkt.

Der Nationalgardist Hamdou steht neben seinem Jeep, kaut auf einem Stück Miswakholz herum und schaut zu, wie ein roter Lastwagen anrollt. Gut 30 Männer sitzen auf der Ladefläche. Sie tragen weite Gewänder, ihre Köpfe verschwinden in Turbans, die Gesichter sind nicht zu erkennen. Der Fahrer steigt aus, in der Hand eine blaue Mappe. Die Gendarmen blättern sie langsam durch, dann nehmen sie das Seil zur Seite und der Wagen fährt weiter.

„Das sind Nigrer. Die wollen zu einer Mine hier in der Nähe, Gold suchen“, sagt Hamdou. „Nigrer und Libyer. Sonst kommt hier keiner mehr durch.“ Denn das Seil, das die Gendarmen bewachen, ist heute die Barriere, die den halbwegs sicheren Weg durch die Wüste für viele verschließt. „Jeden Montag, wenn in Agadez die Konvois losfuhren, kamen hier 200 Autos durch“, sagt Hamdou. Nach Zählung der Internationalen Organisation für Migration (IOM) haben 2016 im Schnitt 6.300 Menschen pro Woche Agadez Richtung Libyen und Algerien verlassen. Jetzt trippelt nur ein einsamer Esel über das Geröll. Seine Beine sind zusammengebunden, sodass er nur kleine Schritte machen kann. „Heute kommt keiner mehr“, sagt Hamdou. „Die Fahrer kommen in den Knast.“

Hamdous Uniform trägt das Abzeichen der G5 Sahel Joint Force, der neuen multinationalen Truppe gegen Terrorismus, Drogen- und Menschenschmuggel im Sahel. Fünfzig Millionen Euro gibt die EU für die Wüstenarmee. Im 2017 Juli hat Hamdous Trupp zum letzten Mal eine Gruppe MigrantInnen gefunden, die in der Wüste zurückgelassen wurde. Sechzig Menschen, drei Leichen. „Vor dem Verbot gab es das auch schon“, sagt er. Aber jetzt fahren die Schlepper mitten durch die Wüste statt auf der Straße. „Manchmal verfahren sie sich, manchmal gibt es Unfälle und manchmal lassen sie die Leute einfach zurück, wenn sie glauben, dass wir sie verfolgen.“

Das Gesetz, das den Transport von MigrantInnen verbietet, wird im Mai 2015 beschlossen, zunächst aber nicht umgesetzt. Im Juni 2016 reist Nigers Präsident Mahamadou Issoufou nach Berlin, im Oktober 2016 besucht Angela Merkel sein Land. Sie bleibt nur fünf Stunden, macht aber klar, was sie will: „Wir werden in drei neuen Schwerpunkten enger zusammenarbeiten“, sagt Merkel. „Der erste dieser Schwerpunkte ist der Kampf gegen die illegale Migration.“ Merkel verspricht 27 Millionen Euro Hilfe. Doch Präsident Issoufou weiß, dass viel mehr drin ist. Er fordert 1 Milliarde Euro – und sorgt dafür, dass Merkel bekommt, was sie will: die konsequente Durchsetzung des Gesetzes 2015-36.

Für Issoufou zahlte sich das aus: Im Dezember  2017 sagt die EU Niger eine Milliarde Euro Entwicklungshilfe für den Zeitraum zwischen 2017 und 2020 zu. Das entspricht über 11 Prozent des nigrischen Staatshaushalts. Und das, was Italien, Frankreich und Deutschland bilateral geben, ist da noch nicht einmal mit eingerechnet. Allein bei einem Besuch im Juli in Niamey übergab Bundesverteidigungsministerin Ursula von der Leyen (CDU) 100 Pritschenwagen, 115 Motorräder und 55 Satellitentelefone an Polizei und Armee. Mit drei BeamtInnen und zwei PolizistInnen ist Deutschland derzeit an der Eucap-Sahel-Mission in Niger beteiligt. Die betrachtet die Schlepper vor allem als Teil der organisierten Kriminalität und islamistischer Terrorgruppen und bildet die nigrischen Behörden für den Kampf gegen sie aus.

„Aus Fahrern wurden Schlepper und aus Hoteliers Kriminelle“, sagt Ibrahim Manzo Diallo. Er ist Chefredakteur des Senders Radio Sahara in Agadez. Sein Büro liegt neben dem Studio, im Hof ragt der Sendemast empor, Redakteure laufen durch den kleinen Flur, an der Wand hängt eine Karte, die zeigt, in welchen Teilen der Wüste der Sender empfangen werden kann. Stundenweise sendet Radio Sahara auch das Hausa-Programm der Deutschen Welle, in großen Teilen des Landes gibt es kein anderes Medium.

„Die EU hat Niger dazu gebracht, den Weg durch die Sahara zu versperren“, sagt Diallo. Er hält das für illegal: „Die Migranten sind Bürger der westafrikanischen Staatengemeinschaft“, sagt er. „Sie haben das Recht, sich hier frei zu bewegen. Stattdessen werden sie behandelt wie Verbrecher, aufgehalten und in Lager gesteckt.“

5.700 MigrantInnen pro Monat fahren nach Schätzung der IOM heute von Niger nach Libyen, etwa ein Fünftel des Vorjahreswertes. Die Reise sei für sie gefährlich geworden, sagt Diallo. „Die Regierung sagt, es gebe bislang 31 Tote in diesem Jahr. Wir glauben, dass es in Wahrheit Hunderte sind.“ Vier Berichte über Leichenfunde bekam sein Sender in diesem Jahr von den LokalkorrespondentInnen in der Wüste.

Diallo hat die Bilder auf seinem Laptop gespeichert: mumifizierte Körper, entkräftet, verdurstet, vertrocknet, erstarrt. Teils auf dem Boden neben den Autos, teils noch im Wagen, die Gliedmaßen zusammengefaltet. Einige der Toten waren Kinder, bei manchen ragen nur noch die Arme aus dem Sand.

„Die meisten Leichen werden aber nie gefunden.“ Das Problem sei, dass den neuen Fahrern die Routine fehle. „In den Ghettos wussten die Leute immer ganz genau, wer wann wohin gefahren ist. Jetzt läuft alles diskret, im Verborgenen. Die Fahrer nehmen andere Wege, die weiter sind und gefährlich. Sie fahren nach GPS, aber sie kennen sich nicht aus, denn sie sind nicht von hier.“ Niemand kenne die Wege, die sie nehmen. „Die Wüste ist größer als das Mittelmeer. Manche kommen nach ein oder zwei Monaten immer noch nicht in Libyen an.“ Das überlebe niemand. „Warum muss das hier bei uns geschehen?“, fragt Diallo. „Wenn Europa keine Migranten mehr will, warum hält es sie dann nicht an seinen eigenen Grenzen auf?“

Der Regionalrat von Agadez hat im Oktober 2016 eine Studie vorlegt, die zeigen soll, welchen Verlust die neue Politik für die Region bedeutet: Für Unterkunft, Essen, Proviant, Ausreisesteuer und die Fahrt habe jede/r MigrantIn demnach umgerechnet 295 Euro in der Stadt gelassen. Die IOM schätzt, dass 2016 insgesamt 330.000 Menschen durch Agadez reisten. Demnach entstehe ein Verlust von etwa 100 Millionen Euro im Jahr, so der Regionalrat.

Entsprechend unbeliebt ist die neue Politik in Agadez. Also musste Nigers Präsident Issoufo einen Auswärtigen als Gouverneur nach Agadez schicken. Am Abend sitzt der aus dem Westen Nigers stammende Sadou Soloke, bewacht von der Nationalgarde, in seinem Amtssitz, in Sichtweite der Büros der Vereinten Nationen, der IOM und der deutschen Gesellschaft für internationale Zusammenarbeit. Er trägt das ausladende weiße Gewand, das hier Babban Riga heißt, dazu eine rote Filzkappe. „Wir machen das nicht, weil die Europäer das sagen, auch wenn viele das behaupten“, sagt er.

Der Kampf gegen die Schlepper sei richtig, sagt Soloke, „weil sie nach unserem Gefühl inhuman sind und die Jugend gefährden“. Schlepper manipulierten die Jugendlichen, sodass diese sich in tödliche Gefahr brächten. „Es ist ein unehrenhaftes Geschäft. Wie sollen wir das tolerieren?“ Warum den Behörden diese „moralische Verpflichtung“ erst dann auffiel, als die EU Millionen auf den Tisch blätterte, sagt Soloke nicht.

Es sei wahr, dass viele Menschen in Agadez deswegen heute kein Einkommen mehr haben. „Das war uns bewusst“, sagt Soloke. „Sie müssen ihre Aktivitäten komplett ändern. Wir arbeiten daran“, sagt Soloke. „Aber die Hilfe kommt langsam.“ Bis zu 1.500 Euro bekommen ehemalige Schlepper, wenn sie sich eine neue Existenz aufbauen wollen. 3.000 haben dafür bislang einen entsprechenden Antrag gestellt. Das Geld kommt von der EU, die noch eine ganze Reihe weiterer Projekte in Agadez finanziert, um das zerstörte Geschäft zu kompensieren.

Den Vorwurf, das westafrikanische Freizügigkeitsregime zu verletzen, weist er zurück. „Natürlich sind die Leute frei, sich zu bewegen“, sagt Soloke. „Nur eben nicht, wenn sie nach Libyen wollen.“ Im Übrigen richte sich das Vorgehen der Behörden nicht gegen die MigrantInnen. „Die fassen wir nicht an. Wir bestrafen nur die Schlepper.“ Das habe Wirkung gezeigt: „Die Zahlen sind drastisch zurückgegangen.“ Die MigrantInnen, die heute noch aufgegriffen werden, kommen in ein offenes Lager der UN-Migrationsagentur IOM in Agadez. Von dort wird die Rückreise in ihre Heimat organisiert. Ihm sei bekannt, dass die neuen Routen gefährlicher seien. „Wir beobachten das“, sagt er. „Und dann werden wir auch diese Routen schließen. Sie finden immer andere Wege, also dürfen wir nicht aufhören zu arbeiten.“

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