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Vom „Völkermord“ zu „Gräueltaten“

Entwicklungshilfe versus Reparationen in den deutsch-namibischen Beziehungen

Kathleen Rahn

Noch 2015 berichteten wir in der 70. Ausgabe der ZAG „War da was? Postkoloniale Spurensuche“, dass die Bundesregierung erstmalig das unter Historiker_innen längst verwendete Wort „Genozid“ gegenüber den Vorgängen während des Herero- und Namakriegs (1904-1908) in der damaligen Kolonie Deutsch-Südwestafrika (DSWA) verwendete. Endlich, nach vielen Jahren engagierter zivilgesellschaftlicher Aufarbeitung und der immer lauter werdenden Forderung nach Entschädigung seitens postkolonialer Aktivist_innen und Wissenschaftler_innen rangen sich ranghohe Vertreter wie der damalige Bundestagspräsident Norbert Lammert (CDU) dazu durch, von einem Völkermord zu sprechen. Doch führte Deutschland seine Politik der begrifflichen Anerkennung weiter? Weit gefehlt, denn im Jahr 2018 ist wieder nur von „Gräueltaten“ („atrocites“) die Rede. Warum dieses Hin und Her bezüglich der Terminologie, obwohl die Vereinten Nationen bereits 1985 die deutsche Kriegsführung im heutigen Namibia als den ersten Genozid des 20. Jahrhunderts einstufte? Ein Grund ist die 2017 im Bezirksgericht im New Yorker Stadtteil Manhattan von Nachfahren der Opfer eingereichte Schadensersatzklage gegen Deutschland, in welcher hohe Reparationszahlungen gefordert werden. Ob es zu einem Prozess kommen wird, ist noch immer unklar; die Verhandlung wurde zum 3. Mal vertagt. Die Bundesregierung hält die Klage für unzulässig.

Oft wird im Zuge der Genoziddebatte angeführt, dass die deutsche Kolonialzeit lediglich wenige Jahre währte und wenig raumgreifend war – im Gegensatz zu den riesigen und Jahrzehnte, gar Jahrhunderte existierenden Kolonialimperien Spaniens, Frankreichs oder Großbritanniens. Mal abgesehen davon, dass mensch damit sämtliche postkoloniale Kritik und Forschung untergräbt, die davon ausgeht, dass der deutsche Kolonialismus bis heute Auswirkungen sowohl in den betreffenden ehemals kolonisierenden Metropolen als auch in den damals kolonisierten Ländern verursacht – wer legt fest, was historisch gesehen kurz (= unbedeutend?), was lang (= bedeutend?) ist? Sind die 35 Jahre von der ersten Inbesitznahme Deutsch-Südwestafrikas durch das wilhelminische Kaiserreich im Jahr 1884 bis zum Verlust der Kolonien im Versailler Friedensvertrag von 1919 kürzer als die 12 Jahre der gemeinhin als NS-Zeit betitelten Regierungszeit der NSdAP? Gefühlt wahrscheinlich schon, da die Verbrechen der Nationalsozialist_Innen zum Glück bis heute im kollektiven Gedächtnis der Deutschen besonders präsent sind und auch immer sein müssen. Die deutsche Kolonialzeit und die währenddessen stattgefundenen „actrocities“ – das Wort, das die Bundesregierung aktuell offiziell gegenüber Namibia verwendet, um den Genozidbegriff zu vermeiden – werden hingegen noch immer wenig im Schulunterricht und Alltag thematisiert.

Euphemistische Diskussionen über den Kolonialismus stehen derzeit wieder auf der Tagesordnung. Vorreiter in Europa ist Großbritannien, wo der Kolonialismus jüngst öffentlich als fortschrittsbringende, sinnvolle und sogar ehrenwerte Unternehmung verteidigt wurde.1) So stellt der an der Universität Oxford lehrende britische Theologieprofessor Nigel Biggar in seinem im November 2017 in der  Zeitung Times erschienenen Artikel „Don’t feel guilty about our colonial history“ („Fühlt euch nicht schuldig wegen unserer Kolonialgeschichte“) fest: „apologising for empire is now compulsory“ („sich für das Empire zu entschuldigen, ist heutzutage verpflichtend“).2) Diese Haltung betrifft keineswegs nur einen kleinen Teil der britischen Bevölkerung: laut TAZ gaben 2016 44 Prozent der Briten in einer Umfrage an, stolz auf den Kolonialismus zu sein. Dieser wird in England eher als progressive Entwicklungshilfe, denn als auf Rassismus und Unterdrückung begründetes Herrschaftssystem verstanden. In dieser Hinsicht sollte sich Deutschland lieber an entsprechenden Debatten in Frankreich orientieren, wo derzeit über eine Vorgehensweise zur Restitution der einst nach Frankreich entführten afrikanischen Raubkunst beraten wird. Bundeskanzlerin Angela Merkel sollte die sich bietende Chance ergreifen, die Sammelklage der Delegation der Herero und Nama als Anlass zu nehmen, sich klar zu der historischen Verantwortung Deutschlands zu positionieren und das nicht nur mit Blick auf die deutsche Kolonialzeit im heutigen Namibia.

Deutsche Entwicklungshilfe für die Diktatur in Togo

Die deutsche Kolonialherrschaft bereitete nämlich unter anderem auch den Boden für die am längsten und bis heute währende Militärdiktatur in Togo. In der ehemaligen „Musterkolonie“ der Deutschen, die nur in einem Punkt „mustergültige“ Ergebnisse lieferte, nämlich hinsichtlich der ökonomischen Ausbeutung, herrschen derzeit schwere Unruhen gegenüber der von blutiger Repression, Korruption3) und staatlicher Zensur geprägten und seit mehr als 45 Jahren währenden Alleinherrschaft der Familie Gnassingbé. Die in Berlin lebende togoische Diaspora, deren zahlenmäßig nicht unerhebliche Präsenz in der deutschen Hauptstadt ihre Wurzeln unter anderem im deutschen Kolonialismus hat, rief am 13. Januar 2018 zur Demonstration gegen die Diktatur in Togo auf.4) Es ist mehr als fraglich, ob die Bundesregierung die nach zwanzigjähriger Unterbrechung erst 2012 wiederaufgenommene „Entwicklungszusammenarbeit“ mit Togo angesichts der dort seit 2017 zunehmenden und gewaltsam vom Regime unterdrückten Demonstrationen aufrechterhalten sollte. Die vielen politischen Gefangenen und ermordeten Demonstrierenden zeugen alles andere als von einer „Phase der Demokratisierung und gesellschaftlichen Öffnung“, mit der das Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (BMZ) die im Juni 2016 zugesagten Gelder in Höhe von 54 Milliarden Euro für zwei Jahre rechtfertigt.5)

Bilaterale Verhandlungen zwischen Deutschland und Namibia: Entwickeln statt entschädigen?

Für Namibia sind laut BMZ für denselben Zeitraum 2017/2018 130 Milliarden Euro Entwicklungshilfe veranschlagt. Insgesamt sind seit 1990 870 Millionen Euro gezahlt worden.6) Seit 2015 gibt es offizielle bilaterale Verhandlungen zur Frage der besonderen historischen Verantwortung Deutschlands gegenüber Namibias, die von Sondergesandten der deutschen und der namibischen Regierung geführt werden. Im Juli 2016 bekräftigte der deutsche Sondergesandte Ruprecht Polenz (CDU) auf einer Pressekonferenz in Windhoek, dass keine Zahlung von Reparationen erfolgen werde, sondern einzig und allein weitere Entwicklungsprojekte durchgeführt würden. Der namibische Präsident Hage Geingob (SWAPO) ließ hingegen verlauten, dass Reparationen keinesfalls ausgeschlossen seien.  „Entwickeln“ statt „entschädigen“ lautet bis heute die Position seitens der Bundesregierung. Die seit 1990 erfolgte und zukünftig erfolgende Entwicklungshilfe dient somit als Legitimierungsargument, keinerlei Entschädigungszahlungen an die betroffenen Gruppen der Herero, Nama und Damara zu tätigen. War Deutschland bereits durch den Verlust der Kolonien 1919 schlagartig davon befreit, sich an der sich im 20. Jahrhundert vollziehenden Phase der weltweiten Dekolonisation zu beteiligen, so wenig setzt mensch in Deutschland sich derzeit mit den vor allem in Namibia bis heute deutlich sichtbaren Auswirkungen der deutschen Kolonialherrschaft auseinander. Die wirtschaftliche Situation der heute weitestgehend verarmten Herero hat ihren Ursprung in der deutschen Kolonialzeit, als den Herero ihre Rinderherden und ihr Land gewaltsam genommen wurden. Was nützt da die umfangreiche Entwicklungshilfe, derentwegen sich die Deutschen beruhigend auf die Schulter klopfen, ohne dabei zu erkennen, dass der Geldsegen aus Deutschland offensichtlich nicht allen Namibiern zuteil wurde? Da sie noch heute direkt unter den Folgen des Genozids leiden, klagen die Herero und Nama in New York City.

Nachdem die Klage lange Zeit überhaupt nicht angenommen wurde, vertritt nun der US-Jurist Jeffrey Harris die Bundesregierung. Dessen wenige bisher bekannt gewordenen Argumente sind bemerkenswert: So wird argumentiert, dass die Opfer der „Gräueltaten“ Einwohner Deutschlands gewesen seien und daher ausschließlich nach deutschem Recht geurteilt werden dürfe, wofür das New Yorker Gericht eben nicht zuständig sei. Diese fadenscheinige Aussage steht in einem krassen Widerspruch zu der nachweislich gänzlich anderen Rechtslage in der damaligen Kolonie DSWA. Die Kolonien – das zeigt besonders eindrücklich die Ausland-Inland-Kontroverse zeitgenössischer Juristen – standen in einem rechtlichen Gegensatz zum Mutterland. Das dualistische Kolonialrecht der Deutschen sprach von zwei unterschiedlichen Rechtskreisen: „Weiße“ und „Eingeborene“. Den „Eingeborenen und Farbigen anderer Stämme“ wurde zwar eingeräumt, dass sie Einwohner der deutschen Kolonie seien, aber die Afrikaner waren deshalb noch lange nicht „Reichsbürger“ wie die Einwohner des wilhelminischen Kaiserreichs. Das damals gültige Reichsstrafgesetzbuch fand keine Anwendung auf die als „minderwertig“ deklassierten Herero, Nama, San, Damara, Ovambo. Für die afrikanische Bevölkerung wurde eigens ein auf Verfügungen und Verordnungen beruhendes Kolonialrecht geschaffen, dass auf ihre Unterdrückung und Ausbeutung ausgerichtet war.7) Die jetzige juristische Argumentation seitens der Bundesregierung ist beschämend und zeugt von der Ignoranz gegenüber den tatsächlichen historischen Begebenheiten. In ihr spiegelt sich die paternalistische Haltung der Nachfahren der ehemaligen Kolonialherren gegenüber den Nachfahren der ehemals kolonisierten und unterdrückten afrikanischen Bevölkerung. Die aktuell klagenden Namibier_Innen werden von der Bundesregierung nicht als rechtmäßige Vertretung der Nachfahren der Opfer des Genozids anerkannt. Honorarkonsul Burchard Führer ging anlässlich seiner Eröffnungsrede einer Ausstellung in der Volkshochschule in Leipzig sogar so weit, die betreffenden Herero und Nama als „komische Figuren“ zu diffamieren. Die Bundesregierung und der namibische Staat seien alles andere als dazu bereit, den betroffenen Nachfahren der Opfer entgegenzukommen. „Lächerlich“ sei deren Ruf nach Entschädigungen für das erfolgte Leid ihrer Ahnen – so die Worte Führers. Dass die Sammelklage dennoch erfolgreich Druck aufbaut, zeigt sich deutlich in den letzten Tagen. Hamburgs Kultursenator Carsten Brosda (SPD) bat die beim 2. Transnationalen Herero- und Nama-Kongress anwesenden Namibier_Innen um Vergebung, da der Hamburger Hafen während des Kriegs und Genozids für den nötigen Truppentransport und Nachschub in Richtung Kolonie sorgte.

Noch im Januar 2018 bekräftigte Polanz, der deutsche Sondergesandte in Namibia, im Interview mit Deutschlandfunk, dass „persönliche Entschädigungen […] nicht infrage kommen“.8) Der im Januar auf den 3. Mai 2018 veranschlagte Gerichtstermin wurde bereits im März abermals auf den Juli vertagt. Wir warten den nächsten Verhandlungstag im Saal des New Yorker Bezirksgerichts ab und sehen dann, ob aus dem versus nicht doch noch Entwicklungshilfe und Reparationen wird.


1) TAZ-Artikel vom 2. Februar 2018: „Sehnsucht nach dem Empire. In Großbritannien streitet man über die Bedeutung des Kolonialismus: Vorbild für erfolgreiche Entwicklungshilfe oder rassistische Ausbeutung?“; http://www.taz.de/!5477546/

2) In Auszügen frei einsehbarer Artikel vom 30. November 2017; https://www.thetimes.co.uk/article/don-t-feel-guilty-about-our-colonial-history-ghvstdhmj

3) Togo belegte 2016 Platz 116 von 176 erfassten Ländern (2015: Platz 107) des Korruptionswahrnehmungsindex der Nichtregierungsorganisation Transparency International; https://www.transparency.de/korruptionsindizes/cpi-2016/cpi-ranking-2016/

4) Initiative Togo Action Plus. Flüchtlingsinitiative gegen Diktatur, Rassismus und Kolonialismus; https://togoactionplus.wordpress.com/2018/01/10/2242/

7) U. a. Dominik Nagl, Grenzfälle. Staatsangehörigkeit, Rassismus und nationale Identität unter deutscher Kolonialherrschaft, Frankfurt am Main 2007.

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